Rezension über:

Günter Frank (Hg.): Fragmenta Melanchthoniana. 500 Jahre Reformation. Band 7, Heidelberg / Ubstadt-Weiher / Basel: verlag regionalkultur 2019, 160 S., 10 Farb-, 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-95505-108-2, EUR 16,90
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Rezension von:
Carsten Nahrendorf
Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Carsten Nahrendorf: Rezension von: Günter Frank (Hg.): Fragmenta Melanchthoniana. 500 Jahre Reformation. Band 7, Heidelberg / Ubstadt-Weiher / Basel: verlag regionalkultur 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 2 [15.02.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/02/33093.html


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Günter Frank (Hg.): Fragmenta Melanchthoniana

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Der vorliegende Sammelband ist in der Reihe "Fragmenta Melanchthoniana" erschienen, die seit 2003 von Günter Frank herausgegeben wird, einem der derzeit wohl bedeutendsten Melanchthonforscher und Leiter der Europäischen Melanchthonakademie in Bretten. Anders als es der Titel nahelegt, handelt es sich nicht um einen thematisch geschlossenen Sammelband zum 500. Reformationsjubiläum im Jahr 2017, sondern um drei "Reden aus Anlass der Verleihung des Internationalen Melanchthonpreises 2018" und neun Aufsätze, die aus den "Sonntagsvorträgen in der Gedächtnishalle des Melanchthonhauses" hervorgegangen sind (5). Dem großen Renommee der Brettener Institutionen als zentrale Stätten der Erinnerung und Erforschung des Reformators entsprechend, handelt es sich bei den Autoren der Beiträge ausnahmslos um durch einschlägige Publikationen profilierte Spezialisten.

Die thematisch breit gefächerten Aufsätze des Bandes bieten u.a. Untersuchungen zu den Bildnissen der südwestdeutschen Reformatoren Johannes Brenz, Ambrosius Blarer, Martin Bucer und Zacharias Ursinus (Maria Lucia Weigel), zum Symbol des Kreuzes mit der Schlange, das von Melanchthon als Wappen und Briefsiegel verwendet wurde (Martin Schneider) sowie drei Beiträge von Hendrik Stössel zu Luthers "Freiheitsschrift", zur Rolle der Musik in der Reformation und zum reformatorischen Verständnis des päpstlichen Amtes. Von weiterführender Bedeutung für die Reformations- und Humanismusforschung sind die Aufsätze von Günter Frank, Beate Kobler und Matthias Dall'Asta.

Frank zeigt in seinem Beitrag die handschriftlich überlieferte "Historia Reformationis" von Friedrich Myconius (1541/42) als "frühe Form einer Historiographie der Reformation", die aufgrund ihrer Editionsgeschichte die spätere "Wahrnehmung" der Reformation "nicht unerheblich bestimmt" habe (91). Umso mehr nimmt es wunder, dass Myconius' Darstellung der Ereignisse um den "sogenannten Thesenanschlag Luthers an der Wittenberger Schlosskirche" in den neu wiederaufgeflammten Debatten nicht berücksichtigt worden sei (97f.). Bekanntlich hat Martin Treu auf Basis einer 2007 aufgefundenen handschriftlichen Notiz Georg Rörers die historische Faktizität dieses Ereignisses nachzuweisen versucht. [1] Volker Leppin und andere verweisen den Thesenanschlag dagegen endgültig ins Reich der Legende. [2] Auch in Myconius' Darstellung findet der Thesenanschlag keinerlei Erwähnung. Stattdessen demonstriert Frank anhand eines entsprechenden Zitats aus diesem Text, dass Luthers ursprüngliche Intention nicht in einem demonstrativen Akt der Provokation gelegen haben dürfte, sondern er mit der Publikation seiner 95 Thesen "zunächst das Gespräch unter Gelehrten zur Klärung der noch nicht lehramtlich definierten Ablasslehre gesucht hatte" (98f.).

Beate Kobler zeichnet in ihrem Beitrag die Entstehung und Entwicklung des negativen Melanchthon-Bildes vom 16. bis zum 20. Jahrhundert nach. Aufgrund seines Strebens nach Ausgleich, Frieden und Dialog mit der katholischen Gegenseite wurde Melanchthon bereits von Luther selbst und später von dessen streng orthodoxen Anhängern wie Nikolaus von Amsdorf oder Matthias Flacius als zu ängstlich, nachgiebig und wankelmütig dargestellt und des Verrats an der "reinen" lutherischen Lehre beschuldigt. Kobler weist nach, dass das zum Teil bis heute virulente negative Melanchthon-Bild auf "Stereotypen, Klischees und Mythen" basiert (127). Die neueste Forschung schätzt dagegen die von ihm gezeigte "Dialogbereitschaft und Friedenssicherung als politische Handlungsmaxime" ein, deren Zielsetzung es gewesen sei, "den Frieden und die Einheit der Kirche zu wahren". [3] Koblers Beitrag basiert auf ihrer 2014 erschienenen Dissertation und bietet demgegenüber nichts grundlegend Neues. [4] Wer jedoch nach einem knappen, konzisen Überblick über die in ihrer Monografie ausführlicher behandelte Thematik sucht, wird hier fündig.

Einen sehr willkommenen Beitrag zur Humanismusforschung leistet Matthias Dall'Asta. Hier untersucht der langjährige Heidelberger Editor der Briefe und Werke Johannes Reuchlins und Melanchthons die "um 1500 besonders explosive Mischung von Polemik und Satire" in Texten und illustrierenden Bildern humanistischer Kampfschriften über "Triumphzüge, Außenseiter und Narren" (103-105). Auf Basis von vor- und frühreformatorischen Texten wie dem "Triumphus Capnionis", den "Dunkelmännerbriefen" und zahlreichen weiteren, bisher nur am Rande thematisierten Quellen aus dem frühen 16. Jahrhunderts gewährt Dall'Asta tiefe Einblicke in die Praktiken der Polemik und Satire des Reformationszeitalters. Unflätige, sexuell explizite und zum Teil sadistische Beschimpfungen bildeten ebenso wie "Folter- und Hinrichtungs-Phantasien mit ihrer Ästhetik des Schreckens [...] im 16. Jahrhundert keine Ausreißer" (114). Wie aktuell und brisant diese Thematik in unseren heutigen Zeiten des grassierenden Populismus und der Hasskommentare im Internet wieder geworden ist, zeigt auch die Arbeit des Sonderforschungsbereichs 1285 zur "Invektivität" an der Technischen Universität Dresden, der sich in zahlreichen Projekten auch der Polemik in der Frühen Neuzeit widmet. Am Schluss seines Vortrages gibt Dall'Asta eine Probe seines köstlichen, scharfsinnigen Humors, was einmal mehr beweist, dass die generelle Beibehaltung der mündlichen Form der Vorträge dem Verständnis keineswegs abträglich ist, sondern sogar einen Vorzug darstellt.

Der einzige Kritikpunkt, der an dieser Stelle angebracht werden könnte, betrifft die offenbar flüchtige, nicht sehr sorgfältige Endredaktion des Bandes, denn auf einer Seite scheinen Fußnoten und Textbelege zu fehlen (98). Als Fazit kann jedoch festgehalten werden, dass dieser Band trotz seines mit 160 Seiten eher schmalen Umfangs einen gewichtigen Beitrag zur Reformations- und Humanismusforschung leistet, indem er einen repräsentativen Querschnitt über Themen bietet, die aktuell in den unterschiedlichen Fachdisziplinen diskutiert werden. Es erscheint daher als überaus wünschenswert, dass die Reihe "Fragmenta Melanchthoniana" vom Herausgeber auch in Zukunft noch lange fortgesetzt wird und dadurch sowohl jüngeren als auch bereits arrivierten Reformationsforschern ein Podium bietet, auf dem sie ihre aktuellen Forschungsergebnisse präsentieren können.


Anmerkungen:

[1] Martin Treu: Der Thesenanschlag fand wirklich statt. Ein neuer Beleg aus der Universitätsbibliothek Jena, in: Luther 78 (2007), 140-144.

[2] Volker Leppin: Geburtswehen und Geburt einer Legende. Zu Rörers Notiz vom Thesenanschlag, in: Luther 78 (2007), 145-150.

[3] Andreas Gößner: Reichspolitik und Religionsgespräche, in: Philipp Melanchthon. Der Reformator zwischen Glauben und Wissen. Ein Handbuch, hg. von Günter Frank, Berlin / Boston 2017, 97-107, Zitat 105. Vgl. hierzu auch meine Rezension des Melanchthon-Handbuchs in der Historischen Zeitschrift 308 (2019), 497-500.

[4] Beate Kobler: Die Entstehung des negativen Melanchthonbildes. Protestantische Melanchthonkritik bis 1560, Tübingen 2014.

Carsten Nahrendorf