Stefan Appelius: Fluchtweg Bulgarien. Die verlängerte Mauer an den Grenzen zur Türkei, Jugoslawien und Griechenland (= Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin; Bd. 26), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2019, 447 S., eine Tbl., 26 s/w-Abb., ISBN 978-3-631-78832-5, EUR 44,95
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Hartnäckig hält sich das auf Monika Tantzscher zurückgehende Sprachbild von der "verlängerten Mauer" in deutschen Forschungen zu Fluchtbewegungen und Grenztoten von DDR-Bürgern im Ausland [1]. Bis heute dominiert die dadurch implizit zum Ausdruck kommende Sichtweise, dass es der DDR nach dem Mauerbau 1961 gelang, ihr Grenzsystem in andere sozialistische Länder zu exportieren. Unhinterfragt übernimmt diese Sichtweise auch die neueste Studie von Stefan Appelius. Der Autor befasst sich seit über zehn Jahren mit den Fluchtversuchen von DDR-Bürgern über Bulgarien.
Die Studie zum "Fluchtweg Bulgarien" gliedert sich in acht Kapitel, die unterschiedliche Zeiträume und Grenzabschnitte umfassen. Dem inhaltlichen Teil vorangestellt ist eine Einleitung, die zwar keine Hinweise auf die der Studie zugrundeliegende Systematik oder Forschungsfragen enthält, dafür aber einen verbalen Rundumschlag gegen die Stiftung Aufarbeitung, die die Studie mitfinanzierte, sowie die bisherigen Forschungen zu dem Thema. Die 2016 posthum erschienene Grundlagenstudie von Christian Domnitz zu den MfS-Operativgruppen wird nicht rezipiert. Struktur, Personalbestand, Organisation und Arbeit der "Operativgruppe Bulgarien" sind bereits in dieser Studie für den Zeitraum von 1962 bis 1989 ausführlich untersucht worden.
Auf die Benutzung wissenschaftlicher Sekundärliteratur verzichtet der Autor auf den rund 400 Seiten ebenso wie auf ein Literaturverzeichnis. Der Studie beigefügt sind eine "vorläufige Übersicht über die deutschen Opfer an der verlängerten Mauer in Bulgarien", eine Übersicht über die Operativgruppe des MfS in der Volksrepublik Bulgarien und statistische Ergebnisse zu DDR-Fluchten in Bulgarien, die ebenfalls ohne Belege und Nachweise auskommen.
Die Angaben des Autors zur Archiv- und Quellensituation in Bulgarien sind widersprüchlich: In den "Anmerkungen zur Quellenlage" heißt es, "dass offizielle Nachforschungen grundsätzlich im Sande verliefen. Zentrale Archive waren entweder angeblich kurzfristig geschlossen oder durften nicht benutzt werden" (433). Dies entspricht nicht der Akten- und Archivlage, wie sie andere Forscher vorfanden [2]. Tatsächlich finden sich dann an zahlreichen Stellen Hinweise auf bulgarische Akten (z. B. 215), die jedoch nicht mit Quellennachweisen ausgewiesen werden.
Die Unbekümmertheit des Autors im Hinblick auf Forschungsstand und Nachweise macht sich an mehreren Stellen bemerkbar. So wird beispielsweise das Bild von der "verlängerten Mauer" unhinterfragt weitertradiert, ohne in systematischer Analyse zu argumentieren, wieso die Berliner Mauer Vorbildcharakter auch für Bulgarien gehabt haben und wie sie die Konzeption der bulgarischen Grenzsicherung beeinflusst haben soll.
Darüber hinaus sind die Beschreibungen der einzelnen Todesfälle an der bulgarischen Grenze mitunter problematisch. Hier ist es das Anliegen des Autors, die Todesumstände sowie das Verfahren der deutschen und bulgarischen Behörden minutiös zu rekonstruieren. Dazu wertete er einen breiten Fundus an Archivmaterialien, Presseberichten und persönlichen Gesprächen aus. Über die Jahre habe er ein persönliches Archiv zu dem Thema zusammengetragen und unzählige Interviews bzw. Gespräche geführt. Insgesamt 95-mal verweist er in den 961 Fußnoten auf persönliche Kommunikation, 49-mal auf sein Privatarchiv. Da eine Offenlegung dieser Quellen unterbleibt, bleiben die Angaben weder nachvollzieh- noch überprüfbar. Dazu entwickelt Appelius eigene Sichtweisen über den jeweiligen Tathergang und stützt sich vor allem auf die nicht öffentlichen Obduktionsberichte der Opfer, die er in Bulgarien eingesehen haben will.
Im Falle des 1974 an der bulgarisch-türkischen Grenze erschossenen Reinhard Poser merkt der Autor an: "Nähere Einzelheiten zu den Umständen seines Todes gibt es nicht" (213). Auch hier hätte eine Berücksichtigung der Forschungsliteratur, die zu diesem Fall bulgarische Akten publiziert und ausgewertet hat, geholfen. Gleiches gilt für die 1975 erschossenen Brigitte von Kistowski und Klaus Dieter Prautzsch. Hier präsentiert der Autor eine Version, nach der die beiden nicht bei einer Flucht erschossen, sondern in einer Grenzwache "vermutlich an die Wand gestellt und exekutiert" wurden (227). Wiederum vernachlässigt er dabei die im bulgarischen Archiv zu dem Fall verfügbaren Unterlagen, die gänzlich andere (beileibe nicht weniger skandalöse) Todesumstände verzeichnen. Einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand und den verfügbaren Akten geht Appelius ein ums andere Mal aus dem Weg.
In Bezug auf die Gesamtzahl der deutschen Todesopfer in Bulgarien sieht es der Autor als "gesicherte Tatsache" an, dass es eine "stattliche Dunkelziffer noch nicht namentlich bekannter getöteter DDR-Flüchtlinge in Bulgarien gibt" (83). In Presseberichten wähnt der Autor die Gesamtzahl zwischen 70 und 90 [3]. Als Beleg für eine Dunkelziffer werden in der vorliegenden Studie persönliche Gespräche genannt. Auch hier sind die Angaben nicht nachprüfbar, und Appelius muss sich die Frage gefallen lassen, wieso er einerseits von "gesicherten Tatsachen" und hohen Zahlen spricht, Angaben zu Namen, Zeitpunkt und Todesumständen jedoch nicht öffentlich macht.
Die größte Stärke dieser Arbeit - die Fülle empirischer Informationen zu DDR-Fluchten in Bulgarien - bleibt leider ungenutzt. Dafür sorgen unwissenschaftliche Arbeitsweise und Sprachduktus, fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand und den Beständen in bulgarischen Archiven, nicht nachvollziehbare Quellen sowie Mutmaßungen über Dunkelziffern und "alternative Szenarien" bei tödlichen Fluchten. Ein hochproblematisches Buch zu einem hochsensiblen Thema.
Anmerkungen:
[1] Monika Tantzscher: Die verlängerte Mauer. Die Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste der Warschauer-Pakt-Staaten bei der Verhinderung von "Republikflucht", Berlin 2001.
[2] Christopher Nehring: Geheimdienstliche Dossiers als innenpolitische Ressource im Post-Sozialismus. Das Erbe der bulgarischen Staatssicherheit nach 1990, in: Thomas Großbölting / Sabine Kittel (Hgg.): Welche "Wirklichkeit" und wessen "Wahrheit"? Das Geheimdienstarchiv als Quelle und Medium der Wissensproduktion, Göttingen 2018, 209-232; ders.: Von Dossiers, Kommissionen und hochrangigen Agenten. Das Erbe der bulgarischen Staatssicherheit 1989-2015, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 4/2015, 31-52.
[3] https://www.tagesspiegel.de/politik/20-jahre-mauerfall-maueropfer-ohne-mauer/1626654.html (letzter Zugriff 19.02.2020).
Christopher Nehring