Carl-Christian Dressel / Frank-Lothar Kroll / Glyn Redworth (Hgg.): Der Wiener Kongress und seine Folgen/ The Congress of Vienna and its Aftermaths. Großbritannien, Europa und der Friede im 19. und 20. Jahrhundert/ Great Britain, Europe and Peace in the 19th and 20th Century (= Prinz-Albert-Studien; Bd. 35), Berlin: Duncker & Humblot 2019, XII + 199 S., eine Kt., ISBN 978-3-428-15811-9, EUR 99,90
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Die Folgen eines Ereignisses zu bestimmen, ist eine große Herausforderung, denn es geht darum, kausale Zuschreibungen zu begründen oder - vorsichtiger formuliert - plausibel zu machen. Wie schwer das ist, zeigt bereits der erste Beitrag, in dem Stefan Schieren nach dem "Ort des Wiener Kongresses in der frühen Theorie der Internationalen Beziehungen" fragt. Er richtet diese Frage an Philip Kerr und Alfred E. Zimmern, die beide in der britischen Diplomatie im und nach dem Ersten Weltkrieg gewirkt haben. Am Wiener Kongress orientierten sich beide nicht, der gleichwohl für das politische Denken nicht "völlig bedeutungslos" gewesen sei, da "sein Erbe präsent" war. (22) Doch woran könnte dieses Erbe in der britischen Außenpolitik zu erkennen sein? Danach fragt Hans-Christof Kraus, indem er den Krimkrieg in die britische Politik zwischen 1815 und 1915 einordnet. Auch nach dem Krimkrieg sei Großbritannien einer Grundlinie russischer Außenpolitik - Expansion auf Kosten des Osmanischen Reiches - weiterhin entschieden entgegengetreten. Diese Haltung, 1815 "festgeschrieben" (174), habe Großbritannien 1915 überraschend aufgegeben, als es sich bereit zeigte, Russlands Griff nach den osmanischen Gebieten an den Meerengen und auf dem Balkan stattzugeben. Hier gelingt es, das Ende einer geopolitischen Grundhaltung, die auf dem Wiener Kongress paktiert wurde, zu bestimmen.
Präzise Zuschreibungen gelingen auch Volker Sellin, indem er "Restauration" als eine Voraussetzung für die Stabilität der europäischen Friedensordnung von 1815 erkennt. Im "Verzicht auf die Konsultation der Nation" beim Übergang von der napoleonischen Ordnung zur Monarchie auf der Grundlage der Charte constitutionnelle liege verfassungspolitisch der "Kern der Restauration". (113) Sie zielte auf "Sicherung des Friedens". (116) Im Willen zur Friedenswahrung sieht Sellin das Kernelement der europäischen Neuordnung von 1815. Wenn man den Blickwinkel erweitert, verschwimmen die Zuschreibungen. So bei Robin Blackburn, der "Unexpected Conssequences" des Friedens von 1815 im "Vienna Concert Inside and Outside Europe" untersucht. Solange er allgemeine Entwicklungen skizziert - "ebb and flow of protest, clamp-down, rebellion, repression and revolt" (120) oder den "biedermeier kapitalismus" (123) - bleibt der vermutete Zusammenhang mit den Wiener Beschlüssen vage. Nicht hingegen mit Blick auf den Sklavenhandel im 19. Jahrhundert. Hier habe der Wiener Beschluss zwar "no practical effect" gehabt, doch er öffnete den Weg in die "British anti-slavery diplomacy". (128) Wie der Kongress sich zur Sklaverei stellte, war auch in der britischen Innenpolitik ein zentrales Thema. Die Opposition nutzte es, um das gesamte politische System an den Pranger zu stellen. "Wien war der Spiegel", so Georg Eckert in seinem Beitrag, den die Opposition den Eliten vor die Augen hielt, um ihnen "ein durchaus unerfreuliches Antlitz" zu zeigen. (88) Die "innerbritische Debatte um den Wiener Kongreß", so Eckerts Bilanz, war Teil "einer viel größeren Debatte um das politische System auf der Insel". (105) Wie man sich zur Sklaverei stellte, diente als "Gesinnungstest". (105)
Die anderen Studien sind thematisch mehr oder weniger dicht auf den Wiener Kongress bezogen. Lothar Höbelt untersucht den britisch-nordamerikanischen Krieg, der 1812 begann und 1814/15 endete. Er sieht in der britischen Blockadepolitik eine Parallele zum Ersten Weltkrieg, aber keine direkten Verbindungen, die von dem Krieg in Nordamerika zu den europäischen Ereignissen und zum Wiener Kongress führten. Michael Broers entwirft ein gesamteuropäisches Panorama, wenn er nach der Reichweite des napoleonischen Empires fragt und ein "inner" und ein "outer empire" unterscheidet. Der innere Kreis - "l'ancienne France" mitsamt der Satellitenstaaten ohne Spanien - war ein "elitist construct" (55), vorranging ein "empire of the towns" (58), das sich gegenüber denen, die nicht dazu gehörten, eine "civilizing mission" (66) zuschrieb. Broers napoleonisches Empire ist ein koloniales, das auf indirekte Herrschaft setzt. Die Parallelisierung zur Kolonialforschung ist anregend, aber doch nur begrenzt tragfähig. Die Verwaltungsfunktionäre des Zentrums mochten Hansestädte als die kulturelle Fremde wahrnehmen, "incompatible with the mœurs of civilized nations" (57), zum kolonialen Beherrschungsraum vermochten sie das "outer empire" jedoch nicht herab zu zwingen. Ihre Kultur-Arroganz löste sich in der militärischen Niederlage auf. Wie hätten sie wohl, fragt Broers, die britischen Zustände eingeschätzt, wenn sie die Insel erobert hätten. Wenn man dies quellengestützt fragen kann, muss der kulturelle Überlegenheitswahn von Repräsentanten des napoleonischen Empires grenzenlos gewesen sein. Eine Verbindung zum Kongresseuropa zieht Broers nicht. Man könnte sie nur als Bruch beschreiben.
Zwei Autoren untersuchen Dynastien, die durch den Druck der Revolution und Napoleons gefährdet waren und sich behaupten konnten. Mark Edward Hay belegt, dass die verzweigte Dynastie der Oranier mit ihrer aktiven Politik die britische Regierung geradezu genötigt hat, ihrer Reetablierung im Vereinigten Königreich der Niederlande 1813 zuzustimmen. Auf dem Wiener Kongress wurde das nicht mehr in Frage gestellt. Über die Selbstbehauptung Sachsen-Coburgs im Deutschen Bund und über Erfolge seiner Dynastie auf dem europäischen 'Königsmarkt' berichtet Carl-Christian Dressel. Bismarcks vielzitierte, auch von Dressel aufgenommene Charakterisierung der Gothaer als "Gestüt Europas" (171) konnte allerdings bislang nicht belegt werden. Das Zitiergeflecht führt, wenn man es prüft, zu keiner Quelle. Den Abschluss bildet ein knapper Längsschnitt "From Versailles to the Organisation for Security and Cooperation in Europe (OSCE)" durch Colin A. Munro, der als "Permanent Representative" Großbritanniens die Arbeit dieser Organisation mitgeprägt hat.
Der Band zur Tagung vom September 2015 bietet viele Einblicke unterschiedlicher Art; als eine systematische Analyse der Folgen des Wiener Kongresses ist er nicht angelegt.
Dieter Langewiesche