Rezension über:

Daniel S. Hamilton / Kristina Spohr (eds.): Open Door. NATO and Euro-Atlantic Security After the Cold War, Washington, DC: Foreign Policy Institute/Henry A. Kissinger Center for Global Affairs, Johns Hopkins University SAIS 2019, xx + 618 S., Open Access: https://transatlanticrelations.org/wp-content/uploads/2019/04/Open-Door_full.pdf, ISBN 978-1-7337339-2-2
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Rezension von:
Oxana Schmies
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Oxana Schmies: Rezension von: Daniel S. Hamilton / Kristina Spohr (eds.): Open Door. NATO and Euro-Atlantic Security After the Cold War, Washington, DC: Foreign Policy Institute/Henry A. Kissinger Center for Global Affairs, Johns Hopkins University SAIS 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 5 [15.05.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/05/34385.html


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Daniel S. Hamilton / Kristina Spohr (eds.): Open Door

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Der von Daniel S. Hamilton und Kristina Spohr als Ergebnis einer Tagung an der Johns Hopkins University herausgegebene Band bündelt vielfältige Interpretationen für einen der kontroversesten Momente in der Geschichte der Atlantischen Allianz: ihrer Erweiterung in Richtung Osteuropa nach dem Ende des Kalten Krieges. Diplomaten, Minister, Militärs, Berater der ersten politischen Reihe und, zahlenmäßig in Minderheit, Wissenschaftler aus den USA, Europa und Russland - insgesamt eine beachtliche Zahl von 28 Autorinnen und Autoren, darunter so namhafte wie Madeleine Albright, Andrei Kozyrev, Volker Rühe, Strobe Talbott, Wesley Clark, Alexander Vershbow - liefern ihre Sicht der Dinge. Das sind Erinnerungen und Perzeptionen der Geschehnisse, aber auch quellengestützte Analysen über den Prozess der NATO-Osterweiterung und die Versuche einer Annäherung an bzw. einer Kooperation mit Russland.

In "persönlichen Narrativen" gewähren die Autoren vertiefte Einblicke in die politischen Entscheidungsprozesse und geben Hinweise auf Primärquellen, Protokolle der verschiedenen Sitzungen, Memoiren damaliger Entscheidungsträger sowie zu Sekundärliteratur und Forschungskontroversen der NATO-Osterweiterung. Dazu zählen etwa die Frage nach dem vermeintlichen Versprechen gegenüber der Sowjetunion, die Allianz nicht ostwärts zu erweitern, zeitgeschichtliche Interpretation der "Zwei-plus-Vier"-Gespräche über die deutsche Einheit oder die US-amerikanischen Debatten nach der Rolle der USA in Europa (bzw. der Rolle der Allianz für die USA). Auch die Bewertung der Präsidentschaft von George Bush sen. versus der Administration von Bill Clinton im NATO-Osterweiterungsprozess durch die US-amerikanischen Historiker findet hier ihren Platz.

Mit fünf großen Teilen, jeweils untergliedert in vier bis sieben Kapitel, behandelt der Band die Zeit vom Ende des Kalten Krieges 1989/90 bis zum 70. Jahrestag der NATO, allerdings mit einem klaren Schwerpunkt in den 1990er Jahren. Nach einem Vorwort von Madeleine Albright und einer Einführung der beiden Herausgeber umreißen die Autoren mit dem Part I "Cold War Endgame and NATO Transformed" den Prozess der Strategieentwicklung für die transatlantische Friedenssicherung nach dem Kalten Krieg. Teil II "Pushing to Join the West" überlässt das Wort den ehemaligen hochrangigen Diplomaten, Politikern sowie Historikern aus den Ländern der ersten Erweiterungsrunde, Ungarn, Tschechien und Polen und enthält die mit dem NATO-Beitritt der ersten ostmitteleuropäischen Staaten 1999 verbundenen Erwartungshaltungen auf Sicherheitsgarantien, Frieden und Stabilität. Der titelgebende dritte Teil des Sammelbandes "Opening NATO's Door" erläutert mit deutschen und amerikanischen Beiträgen die Frage nach den Stärken und der Überlebenskraft des Militärbündnisses. Die beiden letzten Teile stellen den Prozess der Suche nach Russlands Platz im veränderten euroatlantischen Sicherheitssystem dar.

Für die reichhaltige Forschung zur NATO-Osterweiterung ist der Sammelband eine wichtige Ergänzung, liefert er doch wertvolle Einblicke in die Hintergrundgespräche der damaligen Entscheider und bereichert das bestehende Wissen um eine informative und unterhaltsame Dimension der persönlichen Erzählung. Dass die subjektiven Interpretationen der Ereignisse zwangsläufig voneinander abweichen, werden die Historiker und Politikwissenschaftler zu bedenken und einzuordnen haben. Bei der beeindruckenden Fülle der angeschnittenen Themen, Debatten und Positionen wäre für die bessere Übersichtlichkeit ein thematischer Index wünschenswert gewesen. Auf ein zusammenführendes Nachwort verzichten die Herausgeber getreu ihrem Anspruch, keine "objektive Wahrheit" erreichen zu wollen.

Die Osterweiterung der NATO bleibt kontrovers und konfliktbehaftet; dies spiegelt der Band gut wider. Die Hauptkonflikte wurzeln in der unterschiedlichen Auslegung von Sicherheitsinteressen; während sich der Sicherheitsbegriff der NATO seit ihrer Entstehung 1949 stetig wandelte, beruht Russlands Verständnis seiner nationalen Sicherheit nach Strobe Talbott kontinuierlich auf der gefährlichen Vorstellung eines Nullsummenspiels in internationalen Beziehungen. Auch die vom russischen Außenministerium reflexhaft verwendete alte sowjetische Rhetorik beim im März 2020 erfolgten NATO-Beitritt Nordmazedoniens zeigt, dass die alten Kontroversen noch längst nicht ad acta gelegt sind, [1] sondern immer noch politische Handlungen bestimmen und deswegen auch ins Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung rücken sollten.

Einigt man sich - wie auch alle Beiträge des Bandes - darauf, dass die NATO-Erweiterung in den 1990ern Marktwirtschaft, Rechtstaatlichkeit, pluralistische Demokratie und die dafür notwendige Sicherheit in die Länder Osteuropas bringen und dabei (im Idealfall) Russland nicht isolieren sollte, stellt sich die Frage: Was ging dabei schief? Heute sind die Gefahren für die internationale Sicherheit kaum minder groß als während der Blockkonfrontation im Kalten Krieg. Es fehlen Visionen und strategische Überlegungen, stattdessen gibt es außer der russischen Instrumentalisierung alter Denkmuster gefährliche Zerstörungstendenzen in der europäischen Integration und der transatlantischen Kooperation. Der Titel des Bandes - "Open Door" - mag einen Schlüssel dafür liefern, wie diesen Herausforderungen künftig zu begegnen ist: wie damals, mit einer Öffnung in Richtung Russland. Denn Russland bleibt jenes Element, das in der euroatlantischen Sicherheitsarchitektur seinen Platz nicht gefunden hat und darauf seine revisionistische außenpolitische Linie aufbaut. [2]

Dieser Sammelband zur transatlantischen Sicherheitspolitik ist eine Enzyklopädie von Hauptstreitpunkten der NATO-Osterweiterung und plastisch dargestellter Entscheidungsprozesse und zugleich eine Inspiration für neue Forschungsfragen. Eine Analogie zwischen der damaligen Aushandlung einer neuen euroatlantischen Sicherheitsordnung und der heutigen Zeit drängt sich beinahe auf. Nur darf Russland bei der künftigen Neugestaltung der internationalen Sicherheitsarchitektur nicht der Elefant im Raum sein - eine solche These im Nachwort des Bandes wäre durchaus denkbar gewesen.


Anmerkungen:

[1] So kommentierte das russische Außenministerium den Beitritt Nordmazedoniens als 30. NATO-Mitglied scharf als "Kampf der Supermächte auf dem Balkan", URL: https://rg.ru/2020/03/30/eksperty-severoatlanticheskij-alians-formiruet-prostranstvo-nato-iugoslavii.html [13.04.2020].

[2] Johannes Varwick: Nato in (Un-)Ordnung: Wie transatlantische Sicherheit neu verhandelt wird, Schwalbach 2017, 108-116.

Oxana Schmies