Martin Sladeczek: Vorreformation und Reformation auf dem Land in Thüringen. Strukturen - Stiftungswesen - Kirchenbau - Kirchenausstattung (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation; Bd. 9), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 720 S., 22 Farb-, 67 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-50810-4, EUR 100,00
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Die Studie widmet sich der Beschreibung der Veränderung des kirchlichen Lebens von der spätmittelalterlichen zur reformatorischen Gesellschaft. Dabei wird dieser Prozess in der bäuerlichen Gesellschaft auf dem Gebiet des heutigen Freistaates Thüringen ohne das Eichsfeld und die Gebiete südlich des Rennsteigs untersucht. Die Studie beginnt mit der Vorreformation auf dem Land zwischen 1470 und 1520. Der Begriff der "Vorreformation" ist unglücklich, wie der Verfasser selbst schreibt (242). Es folgt die Phase der frühen Reformation zwischen 1520 und 1526, schließlich als dritter Teil die lange Phase von 1526 bis ca. 1570, die von der Durchsetzung der protestantischen Landeskirchen geprägt war. Das Scheidejahr 1526 ergibt sich für den Autor durch die ersten Visitationen im Kurfürstentum Sachsen.
Für seine Untersuchung stützt sich der Autor auf vier zentrale Quellenkorpora: Visitationsprotokolle, Rechnungsüberlieferung und Suppliken der Landgemeinden an die Obrigkeit. "Die breiteste Quellenbasis zu den kirchlichen Verhältnissen in den Dörfern stellen zweifellos Kirchenbauten und -ausstattungen dar" (21). Insgesamt wurde die Ausstattung von 160 Dorfkirchen untersucht. Für den Autor ist Reformation lutherische Reformation. Eine tendenziell reformierte Reformation wie in der Grafschaft Henneberg, die südlich des Rennsteigs lag, ebenso wie die täuferische Reformationsbewegung, die in Thüringen erhebliche Verbreitung fand, bleiben unberücksichtigt.
Der Verfasser betont die Versuche der Landgemeinden, sich als eigenständige Akteure zu profilieren. Dabei stand immer der Wunsch nach einer geistlichen Versorgung vor Ort im Vordergrund, wovon wesentlich das Verhältnis der Gemeinden zu ihren Pfarrern abhängig war. Mit den von den bäuerlichen Oberschichten verwalteten Kirchenfabriken stand ein zentrales Instrument der Einflussnahme auf die kirchlichen Verhältnisse vor Ort zur Verfügung. Auf dem Gebiet der individuellen Frömmigkeit und Glaubenspraxis reihte sich die bäuerliche Gesellschaft in die allgemeine Frömmigkeitsgeschichte des späten Mittelalters ein - mit Wallfahrten, Stiftungen und Bruderschaften. Mit der Einführung der Reformation wurden die Bauern mit einer zunehmenden Kontrolle und Einflussnahme insbesondere durch die Kirchenvisitationen konfrontiert. In ihren zentralen Ergebnissen reiht sich die Studie in die altbekannten Überlegungen zur Gemeindereformation und Konfessionalisierung ein.
Die Arbeit stellt auf weiten Strecken ein Quellenexzerpt dar. Die Fragen der Frömmigkeitspraxis und des kirchlichen Lebens untersucht der Verfasser auf der Grundlage des Verhältnisses von Pfarrer und Gemeinde, der Tätigkeit der Kirchenfabriken, d. h. der Finanzverwaltung der Kirche vor Ort, Stiftungswesen, Bruderschaften, Wallfahrten und Prozessionen sowie dem Kirchenbau und seiner Ausstattung, ohne aber auf zentrale Frömmigkeitsfragen wie das Gebet oder das Kirchenlied einzugehen. Dabei kommt der Verfasser zu dem Schluss, dass viele Phänomene wie der Kirchenbau, die finanziellen Strukturen, das Verhältnis der Gemeinden zu ihren Pfarrern nur eine langsame Veränderung erfuhren, während spätmittelalterliche Frömmigkeitsformen wie Messstiftungen, Prozessionen und Wallfahrten verloren gingen.
Grundsätzlich bereitet es dem Autor Schwierigkeiten, zum Ausdruck zu bringen, was er eigentlich sagen möchte. Oder wie soll man solche Sätze verstehen: "Zweifellos muss man sich von den Paradigmen einer Reformation des Jahres 1517 lösen. Das betrifft sowohl die schrittweise Ausbreitung des reformatorischen Gedankengutes erst in den darauffolgenden Jahren als auch den langfristigen Aufbau einer evangelischen Kirche. 'Reformation' wird meist zu eng gedacht. Überdies muss man sich von einer proreformatorischen Position lösen, die die Verbreitung dieses Gedankengutes als Zielzustand der Entwicklung begreift. Diese war nicht vorgezeichnet. Allzu leicht gerät man in Argumentationsmuster, die Altgläubigkeit ab den 1520er Jahren mit Rückständigkeit gleichsetzt." (24) Hier erfahren die Leserinnen und Leser mehr über die Vorurteile des Verfassers als über tatsächliche Interpretationsrichtungen. Immer wieder finden sich Begriffe, die in ihrem jeweiligen Kontext nicht passend sind, egal ob es sich um Hermeneutik (15), Sinnstrukturen (15), Anthropologie (512), Spiritualismus (244), Atheismus (448), Idealismus (547) oder Demokratie (243) handelt.
Das sprachlich-begriffliche Dilemma wird schon im Untertitel deutlich: "Strukturen-Stiftungswesen-Kirchenbau-Kirchenausstattung". Geht es um Phänomene oder Strukturen? Auf einer heuristischen Ebene haben diese Begriffe nichts miteinander zu tun. "Struktur" ist ein Begriff, der vom Autor immer wieder angeführt wird. Er meint damit nicht wirklich "Strukturen" im Sinne von langanhaltenden abstrahierbaren historischen Prozessen, sondern materielle oder pragmatische Bedingungen im Gegensatz zu ideellen. "Neubauten [von Kirchen] entstanden noch in der Mitte des 16. Jahrhunderts nur aus unabdingbaren strukturellen Notwendigkeiten" (548). Gemeint ist, dass neue Kirchen gebaut wurden, wenn die alten Kirchen nicht mehr benutzbar waren.
Schlaglichtartig werden die Probleme der Studie durch begriffliche Ungenauigkeit und die Abschottung von der wissenschaftlichen Literatur beim Kapitel über die Bibliotheken deutlich. Immer wieder betont der Verfasser die schlechte Quellenlage, wenn aber die Quellen sprudeln, werden sie nicht berücksichtigt, nämlich die Bücher selbst. In thüringischen Kirchenbibliotheken sind zehntausende von Büchern des 15. und 16. Jahrhunderts überliefert. Bücher sind deshalb so wichtig, weil sie zentrale Zeugnisse für die Frömmigkeit der evangelischen Bevölkerung darstellen. Die Pfarrbibliotheken entstanden weithin durch die Geschenke der Gläubigen. Deshalb tauchen die Bücher auch nicht in der Rechnungsüberlieferung auf. Hier besteht ein zentraler Unterschied, den der Verfasser nicht im Blick hat, zwischen katholischer Frömmigkeit vor der Reformation und der evangelischen Frömmigkeit: die Bedeutung des Buches: Katechismen, Bibelausgaben, Gebetbücher bis hin zu den Leichenpredigten stellten das Idealbild evangelischer Lebenspraxis tausendfach heraus.
Die begriffliche Unklarheit setzt sich bis in den Kern des Untersuchungsgegenstandes fort. Die fehlende Reflexion über zentrale Begriffe wie Frömmigkeit, Konfession, Bekenntnis, Kirchenzucht usw. führt zu vielen problematischen Äußerungen insbesondere zu Fragen der Frömmigkeit (z.B. 547 in Bemerkungen über "frommes Leben"). "Die Verfestigung der Reformation war bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts keineswegs so weit fortgeschritten, wie es aus heutiger Sicht erscheinen mag. Für die Bevölkerung war nicht sicher, welchen Einfluss die kaiserliche Partei [...] wieder erringen würde oder welche Positionen sich aus den innerlutherischen Lehrstreitigkeiten herauskristallisieren würden. Selbst wenn man dieser Entwicklung Vertrauen schenken wollte, hatte sich noch nicht ausgeformt, was eine protestantische Frömmigkeit auszeichnen würde. Die Kirchenordnungen machten hierzu kaum Vorgaben, ließen viel Spielraum und beschränkten sich oft auf Verbote alter Formen, was sehr typisch für die Evangelischen dieser Zeit war, die sich am stärksten über die Abgrenzung von Anderen definierten" (541). Der erste Satz ist sinnlos, ohne dass man weiß, was die "heutige Sicht" ist. Hat die Bevölkerung wirklich die innerlutherischen Streitigkeiten wahrgenommen? Den Satz, dass nicht klar sei, was eigentlich evangelische Frömmigkeit sei, kann nur der schreiben, der noch nie von einem Katechismus gehört hat. Die Evangelischen definierten sich nicht über Abgrenzung, sondern über ihr Bekenntnis. Kopfschüttelnd lässt der Verfasser den Leser bei folgender Aussage zurück: "Sicherlich war bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts in vielen Kirchen nicht erkennbar, ob man sich in einem evangelischen oder katholischen Gottesdienst befand" (439).
Das Grundproblem der Studie ist der viel zu weit angelegte Untersuchungsgegenstand. Spätmittelalterliche Kirche und Frömmigkeit, die Durchsetzungsphase der frühen Reformation und die Kirchenbildung in mehreren Territorien ist zu viel für eine Dissertation. Vor diesem unmöglichen Unterfangen hat sich der Verfasser in die Aktenüberlieferung zu retten versucht. Deshalb fällt es ihm schwer, zu verallgemeinernden Aussagen zu kommen.
Die Lektüre des Buches lässt den Leser im Zwiespalt zurück: Bewundernswert ist der Fleiß, mit dem vielfältige Quellen ausgewertet wurden. Zusammen mit einer eindrücklichen Bebilderung und der umfassenden Auflistung der Stiftungen im Untersuchungsgebiet stellt das Buch eine erhebliche Leistung dar. Über das kirchliche Leben vor und nach der Reformation erfährt der Leser eine Vielzahl von Details, aber auch nicht mehr.
Thomas Fuchs