Tonia Sophie Müller: "Minderwertige" Literatur und nationale Integration. Die Deutsche Bücherei Leipzig als Projekt des Bürgertums im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Göttingen: Wallstein 2019, 413 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3516-5, EUR 38,00
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Nur selten stoßen Bibliotheken auf Beachtung unter Historiker/innen, die sich mit dem 19. und 20. Jahrhundert beschäftigen - den Nationalsozialismus, der im Rahmen der Provenienzforschung in den letzten Jahren auch bibliotheksgeschichtlich an Bedeutung gewonnen hat, einmal ausgenommen. Die Deutsche Bücherei in Leipzig, die zusammen mit der ehemaligen Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main und dem Berliner Musikarchiv seit 2006 offiziell Bestandteil der Deutschen Nationalbibliothek ist, stellt hierbei gewissermaßen eine Ausnahme dar. Denn die 1912 als Einrichtung des Börsenvereins der deutschen Buchhändler gegründete inoffizielle "Nationalbibliothek" stellte in vielerlei Hinsicht ein Novum und damit ein Politikum sondergleichen dar. Ihre Gründung fiel in eine Zeit, die gemeinhin als Scharnierphase auf dem Weg zur modernen Massengesellschaft gilt, die auch bis dahin gültige bürgerliche Ordnungsvorstellungen vor Herausforderungen stellte.
Tonia Sophie Müller trägt mit ihrer kultur- und wissenschaftshistorisch angelegten Dissertationsschrift zur Deutschen Bücherei einen weiteren Baustein zum Verständnis der Transformationsprozesse in der Übergangsphase zur "Moderne" bei, indem sie sich mit dem Sammelkonzept der Bibliothek sowie dessen Trägern und Förderern auseinandersetzt. Dieses war und ist bis heute ausschließlich dem Sprachprinzip verpflichtet und umfasst somit alle deutschsprachigen Schriften ungeachtet ihres Inhalts. Genau dies aber war zeitgenössisch höchst umstritten. Im Fokus der Debatten stand dabei die sogenannte Schmutz- und Schundliteratur, worunter "Schundkämpfer" alles zählten, was vermeintlich zur Verrohung der Jugend beitrug (neben Erotika z. B. auch Detektiv- und Kriminalgeschichten). Müller rekonstruiert unterschiedliche gesellschaftliche sowie bibliotheksspezifische Debatten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, die sich mit dem Umgang mit "minderwertiger" Literatur befassten und dem Sammelkonzept der Deutschen Bücherei letztlich zum Durchbruch verhalfen.
Während sich Müller in den ersten beiden Kapiteln dem theoretisch-methodischen Rahmen sowie den historischen Kontexten ihres Gegenstandes widmet, entfaltet sie daraufhin in weiteren vier, thematisch angelegten und in ihrer Länge jeweils stark differierenden Kapiteln ihre Argumentation. Dabei spannt sie das Untersuchungsfeld weit - neben bibliotheksspezifischen und -internen Diskussionen sowie den Debatten über Pflichtexemplare werden auch Rationalisierungsdiskurse sowie die nationale "Sammlungsbewegung" als beeinflussende Faktoren insgesamt in den Blick genommen. Als wichtigste historische Entwicklungslinien benennt Müller dabei wirtschaftliche und demokratische Liberalisierungsprozesse (z. B. Pressefreiheit), ein sich wandelndes Verständnis von Zeit, das die Bedeutung der Gegenwart anstelle der Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft herausstellte, was wiederum die Entstehung neuer Gegenwartswissenschaften wie Soziologie und Nationalökonomie sowie das volkskundliche Sammeln alltagskultureller Gegenstände beförderte, die Rolle von Gegenkräften (Volksbildungsbewegung, "Schundkampf") und schließlich den heraufziehenden Radikalnationalismus gepaart mit einem Kulturimperialismus, der den Volksbegriff über staatliche Grenzen hinweg ausdehnte.
Viele der Einzelbefunde, die hier nicht alle referiert werden können, sind bekannt und bereits gut erforscht. Müllers Studie aber bringt verschiedene Debattenstränge erstmals zusammen, zeigt Wechselwirkungen auf und verknüpft diese gekonnt mit der Organisations- und Sammlungsgeschichte der Deutschen Bücherei. Dabei kommt die Studie auch zu einigen differenzierenden Einsichten. So arbeitet Müller anhand biographischer Skizzen der wissenschaftlichen Bibliothekare die Ambivalenz des Bürgertums im frühen 20. Jahrhundert hinaus. Trotz ihrer Zugehörigkeit zum nationalkonservativen Milieu und oftmals sogar aktiven Beteiligung an der preußischen Germanisierungspolitik in Osteuropa sprachen sich die Bibliothekare für eine vollständige und politisch neutrale Sammlung kultureller Überlieferungen aus, über deren Bedeutung erst die Zukunft richten könne, nahmen Anregungen zur Rationalisierung des Bibliotheksbetriebs aus den USA auf und erwiesen sich als überaus technikaffin. Der "deutsche Nationalismus" habe hierin, so Müller, "sein modernes Gesicht" (357) gezeigt. Im internationalen Vergleich kann die Autorin nachweisen, dass Deutschland hinsichtlich der Organisation nationalbibliothekarischer Sammlungen keine Ausnahme darstellte. Schon allein, weil das Ideal der absoluten Vollständigkeit der Sammlungen in der Praxis nie eingelöst werden konnte, war die arbeitsteilige, auf mehrere Bibliotheken verteilte Organisation nationalbibliothekarischer Sammlungen der Normalfall in Europa. In Deutschland hätten sich angesichts des föderalen Systems jedoch ausgeprägte Konkurrenzkämpfe zwischen traditionellen Bibliotheken, die den Titel Nationalbibliothek beanspruchten, und der Deutschen Bücherei entwickelt. Zu weiteren differenzierenden Einsichten kommt Müller mit Blick auf den Börsenverein, der angesichts unterschiedlicher Haltungen von Verlegern und Sortimentern zur "Schundliteratur" eine abwägende Position eingenommen habe. Einerseits begrüßte er als Repräsentant des kulturellen Lebens den "Schundkampf", andererseits stellte er sich einer zu dogmatischen Auslegung des Begriffs "Schund" entgegen, galt es doch die Pressefreiheit und wirtschaftlichen Interessen seiner Mitglieder zu vertreten.
Müller gelingt es, auf anregende Weise das "'Janusgesicht' des Nationalismus" zwischen "Liberalität und Illiberalität, zwischen Gleichheits- und Partizipationsversprechen und der Aggression des nationalistischen Denkens" (378) herauszuarbeiten. Die Leistung der Autorin besteht nicht darin, ein völlig neues Thema erschlossen zu haben, sondern vielmehr bislang unverbunden untersuchte Debatten in ihrer wechselseitigen Durchdringung analysiert zu haben. Das ist ihr hervorragend gelungen. Die konzeptionelle Gliederung des Buches bringt indes auch einige Nachteile mit sich. Zwar hat die thematische Anlage der Einzelkapitel den Vorteil, dass jedes für sich problemlos lesbar und verständlich ist. Liest man das Buch jedoch im Gesamten, so trüben die häufigen Redundanzen zuweilen das Lesevergnügen. Auch wird nicht immer deutlich, wie welcher Debattenstrang genau die Sammeltätigkeit der Deutschen Bücherei beeinflusst hat. Hier hätte man sich in einigen Kapiteln mehr Tiefenbohrungen gewünscht. So werden in einigen Fällen zwar Analogien, aber keine direkten Verbindungen zur Sammelpraxis der Bibliothek deutlich. Gleichwohl ist das Buch insgesamt ein Gewinn und trägt vielleicht auch dazu bei, Bibliotheken in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zukünftig mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Christian Rau