Jens-Christian Wagner (Hg.): Aufrüstung, Krieg und Verbrechen. Die Wehrmacht und die Kaserne Bergen-Hohne. Begleitband zur Ausstellung, Göttingen: Wallstein 2020, 104 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-8353-3649-0, EUR 15,00
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In der Lüneburger Heide befindet sich zwischen Soltau und Celle der Truppenübungsplatz Bergen. Genutzt von der Wehrmacht sowie der SS, bzw. heute der Bundeswehr und von NATO-Truppen zählt er mit mehr als 280 qkm zu den größten in Mitteleuropa. Ab 1935 in der Aufbauphase der Wehrmacht errichtet wurden dort während des Krieges 1940 Kriegsgefangenenlager etabliert und zudem 1943 das u.a. durch die Biographie Anne Franks bekannte Konzentrationslager Bergen-Belsen. Zum Kriegsende dienten die verschiedenen Kasernen und Lagerkomplexe im April 1945 auch der Unterbringung von Zwangsarbeitern u.a. aus den KZ-Außenlagern Dora-Mittelbau. Nach dem Krieg waren in den großzügig angelegten Kasernen teilweise bis 1950 zwischenzeitlichen Displaced Persons untergebracht. Die intensive Nutzung durch britische Truppen nach 1945, die auch die beiden weitläufigen Kasernenanlagen in Fallingbostel - im Westen des Platzes gelegen, und im Band nicht betrachtet - sowie in Bergen-Hohne - im Südosten des Platzes - nutzten sowie vor allem durch die Bundeswehr schloss sich an. Nach dem Abzug der britischen Armee 2015 ist heute allein die Bundeswehr dort stationiert.
Mit dem nunmehr vorliegenden schmalen Band von 104 Seiten dokumentiert die Stiftung Gedenkstätte Bergen-Belsen (https://bergen-belsen.stiftung-ng.de/de/) ihre in einem Gebäude aufbereitete "Ausstellung in ihren wesentlichen Zügen. Ergänzende Essays bieten die Möglichkeit, sich vertiefend mit der Geschichte der Wehrmacht auseinanderzusetzen." (7) Im Gebäude "M.B. 89" - die Abkürzung wird leider nicht entschlüsselt - wurde das Bildungsangebot der Gedenkstätte Bergen-Belsen um einen Anteil in der früheren Wehrmacht- und heutigen Bundeswehr-Kaserne erweitert. Während es im ehemaligen KZ kaum noch bauliche Zeugnisse gibt, nachdem britische Truppen das KZ wegen einer Typhus-Epidemie 1945 niederbrannten, sind die Kasernen beinahe unverändert erhalten geblieben. "Thematisch lässt sich hier nicht nur die Geschichte der Wehrmacht und des DP-Camps erzählen. Der Ort lässt es auch zu, sich mit den militär- und gesellschaftlichen Kontexten der Verbrechen zu befassen, die von Soldaten und SS-Angehörigen in Bergen-Belsen und darüber hinaus an zahllosen anderen Orten in Deutschland und in den von der Wehrmacht besetzten Ländern Europas begangen wurden." (7)
Auf den Seiten 13 bis 67 führt der Katalog durch die Ausstellung, die plakativ und didaktisch reduziert die wesentlichen Wegmarken der Geschichte des Übungsplatzes bis zur Bundeswehr und ihrem Umgang mit militärischen Traditionen reflektiert. So erfährt der Leser u.a., dass eine an den prähistorischen Sieben Steinhäusern durch damals in der Region zahlreich vorhandene überzeugte Nationalsozialisten gepflanzte Adolf-Hitler-Eiche dort weggerissen wurde, nachdem die umfassenden Umsiedelungen zur Errichtung des Übungsplatzes bekannt wurden. Die Täter wurden nie ermittelt. Die vielbeschworene NS-Volksgemeinschaft hatte ihre Feuertaufe bestanden, mag man denken (15).
Die abgedruckten Bilder der Kasernenanlagen vermitteln anschaulich, um welche Dimensionen es sich bei der Kaserne allein in Bergen handelte - und wie der Komplex im Laufe des Krieges um Kriegsgefangenenlager und das KZ erweitert wurde. Aufrüstung und Verbrechen gingen Hand in Hand. Allein im KZ starben mehr als 50.000 Menschen.
Das Kapitel zur Aufrüstung der Wehrmacht skizziert anhand weitläufig bekannter Fakten, wie Wehrmachtführung und Hitler politische und militärisch gemeinsame Sache machten. Der Vernichtungskrieg in Ost- und Südosteuropa wurde oftmals durch die Wehrmacht nicht nur mitgemacht, sondern auch ausgelöst; Kriegsgefangenenbehandlung, Kommissarbefehl und zahlreiche Geiselerschießungen in den besetzten Ländern gehen fraglos auf ihr Konto. (42-49) Der Abschnitt "Schwieriges Erbe" (55-67) thematisiert den Umgang der (west-)deutschen Gesellschaft mit der Wehrmacht und der Bundeswehr mit militärischen Traditionen. Es kann an dieser Stelle nur wiederholt werden, was vielen (Militär-)Historikern missfallen könnte: Erst die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht" hat ab 1995 die bis dahin nicht weit genug bekannten oder häufig negierten Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und in der Gesellschaft zu einer Debatte über die Wehrmacht im Nationalsozialismus geführt. Vorher war es eine Debatte unter wenigen Fachleuten und belastet durch die unsägliche Memoirenliteratur und den lange Zeit sorglosen Umgang auch der Bundeswehr - nicht des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes! - mit der Wehrmachtvergangenheit.
Der Essayteil entwickelt unter Nutzung der wichtigsten Literatur zum Thema - einschlägig seriöse Darstellung sind als Referenzen aufgeführt - die enge Verzahnung von Wehrmacht und NS-Politik. Hinzuweisen ist hier ergänzend auf die erwähnten "zweifelhaften Bezüge" der Bundeswehr zur Wehrmacht im Falle der zahlreichen Kasernenbenennungen, ohne dass die Hintergründe geklärt werden. [1] Der Truppenübungsplatz wird in seiner Geschichte kurz skizziert (78-83), ohne die dort errichteten Kriegsgefangenenlager und ihre Zehntausenden Toten zu vergessen. Die "Vollstreckung von Todesurteilen der Wehrmachtjustiz" wird am Beispiel des Strafgefängnisses Wolfenbüttel beschrieben (84-89) und die vielfältigen Verbrechen gegen Kriegsgefangene kursorisch dargestellt (90-95). Abgeschlossen wird der Band mit einem Essay über "Wehrmachtsoldaten als KZ-Bewacher" (96-103), womit eines dem Ausstellungsbesucher wie auch dem Katalogleser klar sein muss: Damals haben viele eben nicht allein "wie jeder andere auch, [meinen] Dienst gemacht" (96). Vielmehr war die Wehrmacht Zeit ihrer Existenz nicht nur ein willfähriges Vollstreckungsorgan Hitler'scher Außen und Lebensraumpolitik, sondern vielfach eigeninitiativ aktiv - im Militär nennt man das auch "vorauseilenden Gehorsam". Wer da mit gemacht hat, sollte begreifen, wozu er seinen Dienst leistete. Mit völkerrechtlich unbedenklicher Selbstverteidigung hatte die Wehrmacht nun wirklich nie zu tun!
Einzelkritik muss man an diesem offenbar schnell gestrickten Buch doch üben: Die Bildauswahl und auch die Unterschriften regen zum Querdenken an: Warum wird eine Gedenkfeier zum Volkstrauertag in Münster abgebildet, bei der Burschenschafter teilnehmen. Wieso wird die dortige Denkmalinschrift "Treue um Treue" thematisiert, die heute doch eher missverständlich als falsch ist. Und was haben die Fallschirmjäger der Wehrmacht mit diesem Denkmal für ein Regiment der preußischen Armee zu tun? (45) War der Fall um den ehemaligen Marinerichter und späteren Ministerpräsidenten Hans Filbinger nicht doch viel komplexer, als dass man ihn hier plakativ abbildet? (51) Und hätte nicht doch erwähnt werden sollen oder müssen, dass der ehemalige Generalstabschef des Heeres, Franz Halder (36), als wirkmächtiger Architekt die Legende der "sauberen Wehrmacht" strickte und dabei von der US-Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg vielfältig gestützt, gefördert und belohnt wurde? [2] Und nicht zuletzt verwundert es, dass wieder einmal Generaloberst von Fritsch als "zentraler Kritiker einer Außenpolitik, die unweigerlich zum Krieg führen musste" (72) historisch falsch zum Opfer Hitlers stilisiert wird.
Es bleibt ein Katalog zurück, der im Bildteil Simplifizierungen anbietet, die erst im Essayteil aufgelöst werden. Damit ist zu befürchten, dass der Besucher der Ausstellung mit einem oberflächlichen Bild alleingelassen wird. Es wäre hilfreich, wenn man dann in der Ausstellung gegen eine Schutzgebühr (Eintritt plus Katalog) die Lektüre gleich mitnehmen kann und nicht erst am Ausgang über den Kauf nachdenken muss - und dann doch mit leeren Händen das Gebäude verlässt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. zur oftmals beliebig unkritischen Namensgebung in der Bundeswehr bis in die 1990er Jahre: Heiner Möllers: Traditionskonstrukte. Namensgebungen - nicht nur in der Luftwaffe. In: Heiner Möllers / Eberhard Birk (Hgg.): Die Luftwaffe und ihre Traditionen, Berlin 2019 (= Schriften zur Geschichte der Deutschen Luftwaffe; 10), 142-173.
[2] Paul Fröhlich: Der Generaloberst und die Historiker. Franz Halders Kriegstagebuch zwischen Apologie und Wissenschaft, in: VfZ 68 (2020), 25-62.
Heiner Möllers