Rezension über:

Anna Ransmayr: Untertanen des Sultans oder des Kaisers. Struktur und Organisationsformen der beiden Wiener griechischen Gemeinden von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis 1918, Göttingen: V&R unipress 2018, 764 S., 5 Kt., 15 s/w-Abb., 8 Tbl., ISBN 978-3-8471-0782-8, EUR 90,00
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Rezension von:
Thomas Mark Németh
Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Mark Németh: Rezension von: Anna Ransmayr: Untertanen des Sultans oder des Kaisers. Struktur und Organisationsformen der beiden Wiener griechischen Gemeinden von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis 1918, Göttingen: V&R unipress 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 10 [15.10.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/10/31961.html


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Anna Ransmayr: Untertanen des Sultans oder des Kaisers

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Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung der Dissertation, mit der die Verfasserin 2017 "sub auspiciis praesidentis rei publicae" promovierte. Sie ist seit 2008 Leiterin der Fachbereichsbibliothek Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien; zudem ist sie Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für neugriechische Studien.

In Anbetracht der zunehmenden interdisziplinären Erforschung der im Raum der Habsburgermonarchie angesiedelten Orthodoxie antwortet diese Studie zur Institutionsgeschichte der beiden, im 18. Jahrhundert von orthodoxen Händlern aus dem Osmanischen Reich in Wien gegründet griechischen Gemeinden, auf ein fächerübergreifendes Desiderat. Sie stellen eine religionsrechtlich einzigartige Konstellation dar, insofern die Gemeinde zum heiligen Georg für osmanische Staatsangehörige zuständig war, die Gemeinde zur Heiligen Dreifaltigkeit aber für habsburgische Untertanen.

Die 372 Seiten umfassende inhaltliche Darstellung gliedert sich nach einer Einleitung (13-36) in zwei große Hauptteile. Der erste befasst sich mit der Verwaltungsgeschichte der Gemeinden. Kapitel 1 skizziert die Geschichte der St. Georgskapelle von 1699 bis 1781 (37-66), Kapitel 2 die Verwaltung und Organisation beider Gemeinden von 1781 bis 1848 (67-161), Kapitel 3 die durch Mitgliederschwund und ethnische Differenzierung gekennzeichnete Entwicklung bis 1918 (163-244). Der zweite Hauptteil befasst sich mit der Demografie und Sozialstruktur der Gemeinden sowie ihrer Identitätskonstruktionen. Hierzu zählen Kapitel 4. über die zahlenmäßige und räumliche Präsenz der Wiener Griechen (245-326) und Kapitel 5 über die Identität und Selbstwahrnehmung der Gemeinden (327-368). Eine Conclusio (369-372) rundet die Darstellung ab. Anschließend folgt ein äußerst umfangreicher und wertvoller Editionsteil, der 39, großteils zum ersten Mal präsentierte Quellentexte enthält (373-712). Das Buch schließt mit Verzeichnissen, einem englischen Abstract und einem Personenregister (713-764).

Vor dem Hintergrund sich wandelnder geopolitischer Voraussetzungen werden die Beziehungen der Gemeinden zu den beiden Vielvölkerreichen dargestellt, wie auch ihr Selbstverständnis und institutioneller Charakter, die vielschichtigen Veränderungs- und Anpassungsprozessen unterlagen. Gestützt auf die historische Diskursanalyse zeigt die Verfasserin auf, dass die Zugehörigkeit der Wiener Griechen zu einem der beiden Staaten identitätsbildend war und die Trennung der Gemeinden nach Staatsangehörigkeit zur Folge hatte. Zudem führte das Spannungsverhältnis zwischen beiden Gesellschaften zu einer bemerkenswerten institutionellen Gemeindeautonomie im rechtlichen und ökonomischen Bereich.

Die Stärke der Arbeit liegt in der Herausarbeitung der beiden Gemeinden als genuin von der Habsburgermonarchie geprägte Institutionen mit einem komplexen soziokulturellen Charakter. Sie unterlagen einem spannungsreichen Ethnisierungsprozess, der auch in Hinblick auf die Sezession der orthodoxen Serben und Rumänen aufschlussreich ist. Für den an der Geschichte der europäischen Orthodoxie interessierten Leser erweist sich das Buch als eine Fundgrube, zumal sich in den Wiener Gemeinden die innerorthodoxen Beziehungen widerspiegeln. Es macht auch deutlich, wie vielfältig die Bezüge orthodoxer Gemeinschaften und Christen zu Staat, Politik, Gesellschaft und Kultur in Österreich waren (und es bis heute sind). Die Arbeit lässt auch das Religionsrecht als eine wesentliche Schnittstelle gesellschaftlich relevanter Entwicklungen erkennen.

Der äußerst sorgfältig recherchierte Band kann durch die kürzlich geordneten Archive der beiden Wiener Gemeinden erstmals auf eine breite Quellenbasis zurückgreifen. Im Unterschied zu den meisten bisherigen - und nicht selten tendenziösen - Darstellungen zeichnet er sich sowohl durch hohe Sachlichkeit aus als auch durch den breiten Untersuchungszeitraum, der auch die Dokumentation der Phase des Niedergangs der Gemeinden ermöglicht. Dass die Arbeit in wesentlichen Punkten bereits etablierte Forschungsergebnisse zur Orthodoxie in der Habsburgermonarchie bestätigt, liegt auf der Hand. Sie bietet aber viele neue Erkenntnisse und leistet wertvolle Dienste, indem sie Tatsachen- und Wertungsfehler berichtigt, die unter anderem in der in mancherlei Hinsicht unzureichenden Monografie Willibald Plöchls [1] enthalten sind.

Die fachlich und methodisch sehr fundierte Darstellung zeichnet sich durch einen sorgfältigen Umgang mit Quellen aus. Bei den behördlichen Archivalien staatlicher Archive wäre neben der Angabe von Bestand sowie Bezeichnung und Datum der Schriftstücke ein vergleichbar konsequenter Umgang mit Aktenzahlen aber durchaus wünschenswert gewesen. Die Karlowitzer Jurisdiktion wäre nach 1848 besser nicht als ein Patriarchat sondern weiterhin als eine Metropolie zu bezeichnen, selbst wenn ihr Oberhaupt den Ehrentitel eines Patriarchen trug. Solche Unschärfen sind dem Rezensenten freilich gerade auch aus eigener Produktion bekannt, und die Geringfügigkeit der genannten Kritikpunkte unterstreicht die wissenschaftliche Qualität des Werkes.

Die Arbeit wird jedenfalls ihrem Anspruch gerecht, eine wesentliche Forschungslücke zu füllen. Der Blick auf Details verbindet sich mit der übersichtlichen und angenehm lesbaren Präsentation eines vielschichtigen Phänomens. In Anbetracht der umfangreichen und intensiven Quellenarbeit und der daraus resultierenden beträchtlichen Erweiterung des Kenntnisstandes bleibt gewiss noch Spielraum für umfassendere Theoriebildung und Einordnung der Erkenntnisse in größere historiografische Zusammenhänge. Auch dies schmälert in keiner Weise den hohen Wert dieser Arbeit, von der die Forschung zur Geschichte der Orthodoxie in der Habsburgermonarchie wohl noch lange und wesentlich profitieren wird.


Anmerkung:

[1] Willibald M. Plöchl: Die Wiener orthodoxen Griechen. Eine Studie zur Rechts- und Kulturgeschichte der Kirchengemeinden zum Hl. Georg und zur Hl. Dreifaltigkeit und zur Errichtung der Metropolis von Austria (= Kirche und Recht; Bd. 16), Wien 1983.

Thomas Mark Németh