Oliver Kann: Karten des Krieges. Deutsche Karthographie und Raumwissen im Ersten Weltkrieg, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, VII + 346 S., 28 Kt., 8 Farb-, 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-70312-5, EUR 98,00
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Dieses Buch bringt sehr viel Neues für jeden, der sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt. Nach dem Willen der führenden Militärs aller beteiligten Nationen sollte dieser ja ein schneller und kurzer Krieg werden. Und man glaubte, trotz aller Bedenken von Außenseitern, über die technischen Hilfsmittel für einen "war by timetable" zu verfügen, so dass die Soldaten spätestens Weihnachten siegreich nach Hause zurückkehren könnten. Am Anfang schien das ja auch zu gelingen, wenn etwa alle zwei Minuten ein Zug den Kölner Hauptbahnhof Richtung Front verließ.
Wenn von solcher technischen Kompetenz noch Jahrzehnte lang die stolze Rede war, so wurde doch geflissentlich verschwiegen, wie groß die Schwierigkeiten gewesen waren, sachgerechtes Kartenmaterial für den Feldzug etwa in Belgien und Frankreich zu beschaffen, um dieses zielgerecht nutzen zu können. Viele stümperhafte Truppenbewegungen, ein oft unglaubliches Hin und Her, etwa bei der "Verfolgung" der Franzosen im September 1914, sind zwar oft konstatiert und kritisiert, kaum einmal aber mit dem Problem des fehlenden oder unzulänglichen Kartenmaterials erklärt worden. Oliver Kanns Dissertation ist geeignet, uns hier erheblich weiterzubringen. Er ist kein Historiker, sondern Geograph. Das hat den großen Vorteil, dass er die Geschichte der Kartographie kennt, die einem Weltkriegs-Historiker normalerweise fehlt. Das hat aber auch den Nachteil, dass auf eine für die Geschichte des Ersten Weltkriegs eigentlich überflüssige Weise zunächst einmal auf nahezu 100 Seiten die wohl gesamte Geschichte der Vermessungstechnik inklusive aller Implikationen für die Historische Geographie im 19. Jahrhundert ausdifferenziert wird.
Die Lektüre wird also für Nicht-Experten zunächst ein wenig ermüdend, aber es lohnt sich durchzuhalten! Denn die Ergebnisse dieser Studie zur Kartennutzung im Ersten Weltkrieg sind insgesamt wichtig, um Truppenbewegungen und Schlachten zu erklären. Die Grundfrage, die die Kartengestaltung von jeher beherrscht, ist: Was ist eine gute Karte, welche Kriterien gelten und wer entscheidet, was auf einer militärisch relevanten Karte dargestellt werden muss? Kann legt dar, wie sehr die Kartenproduktion insgesamt von einer "gesamtnationalen" Ideologie bestimmt wurde: "Jenseits der funktionalen Verwendung als Orientierungsmittel sollte die Karte das Deutsche Reich als eine Einheit darstellen und damit an das patriotische Gefühl der Bürgerinnen und Bürger appellieren." (59). Eine solche Grundeinstellung hatte Konsequenzen für die Sichtbarmachung von Provinz- und Landesgrenzen. Die angrenzenden Länder, etwa Belgien und Frankreich, wurden nicht hinreichend präzise miterfasst. Oft waren auch die bestehenden Vorschriften zum Einzeichnen von Wegen und Straßen für militärische Zwecke kontraproduktiv, weshalb man sich schon vor dem 1870er-Krieg entschied, besondere militärische "Wegekarten" zeichnen zu lassen.
Aber auch diese speziellen Militärkarten waren alles andere als zuverlässig, wie der Verfasser sehr spannend darstellt (63ff). So wurde unendlich darüber diskutiert, was eigentlich für militärische Zwecke besser geeignet sei: Höhenlinien oder Schraffierung der Höhenzüge. Zudem: Das "Dogma der Beweglichkeit" des deutschen Generalstabs seit dem älteren Moltke führte dazu, dass absolute Priorität auf die Eisenbahnlinien gelegt wurde, weshalb die übrigen Probleme der Topographie für die Beweglichkeit von Truppen massiv unterschätzt wurden. Das erwies sich neben vielen anderen Fällen etwa beim Vormarsch der Armee Kluck in Belgien im September 1914 (61 und 99ff). Leider wird dies dann nicht weiter ausgeführt und es zeigt sich hier eine kleine Schwäche dieser eben nicht von einem Historiker geschriebenen Arbeit: er ist nicht unbedingt auf dem Stand der historischen Forschung zu diesen Fragen. Holger Herwigs "Marne", deren englische Fassung im Literaturverzeichnis auftaucht, wird gerade im Hinblick zum Vormarsch der Kluck-Armee an der Marne nicht ausgewertet. Auch die fehlerhaften Darstellungen in den deutschen Generalstabskarten bei der Evaluierung der Fortschritte der russischen Mobilmachung von 1914 werden leider nur angedeutet (78). Sicherlich hätte man dazu mehr eruieren können, wenn etwa die 14-bändige Veröffentlichung des deutschen Generalstabs "Der Weltkrieg 1914-1918" benutzt worden wäre. Da verspricht weitere Forschung, die dieses Buch anregen kann, neue Einsichten!
Präzise beschrieben wird hingegen die erstaunliche Tatsache, dass auf den deutschen Karten in den Jahren vor 1914 Festungsanlagen auf der deutschen Seite mit Absicht nicht eingetragen wurden, wohl aber jene auf französischer und belgischer Seite. Erst ab Seite 87 konzentriert sich die Darstellung ganz auf die Zeit von 1914 bis 1918. Was sich schon bei den langfristigen Vorbereitungen anzeigte, wurde hier Realität: Die deutschen Generalstabskarten waren bei Kriegsbeginn schlicht veraltet, weil sie auf die Landesverteidigung, nicht aber auf offensive Kriegführung ausgerichtet waren. Und, was noch schlimmer war: Der Generalstab verfügte im Juli 1914 nicht über aktuelles Kartenmaterial zu Frankreich, obwohl es dieses durchaus gab. So geschah es, dass beim Einmarsch in Belgien und Frankreich überall verzweifelt nach belgischen oder französischen Karten gesucht wurde, die man in eroberten Stellungen zu finden hoffte und tatsächlich oft fand, wie detailliert beschrieben wird.
Auch das Desaster des "friendly fire", also des versehentlichen Artilleriebeschusses der eigenen Truppe, lässt sich teilweise als Kartenproblem erklären. Bei der Kennzeichnung von Bodenerhebungen aller Art waren die französischen Karten ungleich präziser als die deutschen. Ähnliches gilt für die Luftaufnahmen der feindlichen Stellungen, von denen man sich viel, allzuviel! erwartete und oft in die Irre geführt wurde. Diese Situation konnte erst ab Juli 1915 verbessert werden (112ff), wobei Kann die damals erfolgten vermessungstechnischen Neuerungen ausführlich beschreibt. In diesem Zusammenhang findet sich auch eine hübsche Anekdote: Die Berechnungen von Richtungen und Entfernungen wurden während der Somme-Kämpfe dadurch erschwert, dass die Kompassnadeln oft nur noch rotierten oder ganz falsch anzeigten. Sie wurden nämlich durch das Metall abgelenkt, mit dem der Boden allmählich durchsetzt worden war.
Was ich hier in hoffentlich geordneter Folge berichte, ist eine eigene und eigentlich höchst überflüssige Analyse-Arbeit, da Vieles an den verschiedensten Stellen des Buches auftaucht und der Leser immer wieder das Gefühl hat, dass er das Berichtete schon vorher einmal gelesen hatte. So wird beispielsweise ab Seite 130 wieder ausführlich auf die Beutekarten eingegangen, und auf Seite 158ff. noch einmal. Auch die auf Seite 112 ff beschriebenen Schwierigkeiten der Luftbildaufnahme werden ab Seite 143 neu variiert.
Trotz solcher Einzelkritik bleibt vor allem festzuhalten, dass es viel Spannendes und auch für den Experten Neues in diesem Buch gibt. Es eröffnet der Forschung zum Ersten Weltkrieg neue Pisten. So ist dieses insgesamt, anstatt nur für den Kartenteil auf Kunstdruckpapier gesetzte Buch nicht nur entsprechend schwer (und wohl überflüssig teuer) geworden, sondern auch sehr gewichtig.
Gerd Krumeich