Julia Thyroff / Béatrice Ziegler (Hgg.): Die Jugoslawienkriege in Geschichtskultur und Geschichtsvermittlung, Zürich: Chronos Verlag 2020, 230 S., ISBN 978-3-0340-1582-0, EUR 38,00
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Der vorliegende Sammelband überzeugt durch seinen gleichermaßen ganzheitlichen wie differenzierten Zugriff auf die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre. Den Herausgeber*innen Julia Thyroff und Béatrice Ziegler, zwei Schweizer Geschichtsdidaktikerinnen, ist es gelungen, neben Kolleg*innen aus der eigenen Domäne, Oliver Plessow, Dominik Sauerländer, Susanne Grubenmann, Gabriele Danninger, die Osteuropahistoriker*innen Nada Boskovska, Franziska Anna Zaugg, Elisa Satjukow, Kathrin Pavic und Thomas Bürgisser, die Erziehungswissenschaftlerin Nadine Gautschi, den Politologen Shkelzen Gashi, die Medienwissenschaftlerin Elke Schlote und die Kulturanthropologin Petra Hamer dafür zu gewinnen. Wobei die Fachzuordnung nicht so eindeutig ist, wie gerade behauptet, denn die genannten Wissenschaftler*innen und den Sammelband verbinden nicht nur der Gegenstand sondern auch die Interdisziplinarität. In der Einleitung machen Julia Thyroff und Béatrice Ziegler deutlich, was sich bei der Lektüre der folgenden Beiträge vielfältig konkretisiert: Die Heterogenität des historischen Geschehens sowie seiner Verarbeitung in Erinnerung, Geschichtskultur und -vermittlung bietet einerseits die Chance, historisches Lernen zu fördern, anderseits aber kann sie in Sprachlosigkeit oder sogar Hass münden.
Nada Boskovska kommt in ihrer geschichtswissenschaftlichen Grundlegung, dem ersten Teil des Bandes, zu dem Schluss, dass eine Vergangenheitsbewältigung in den postjugoslawischen Staaten im Moment undenkbar erscheint. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass ein solcher Prozess in Deutschland erst relativ spät und in Spanien in Bezug auf die Diktatur Francos gerade erst jetzt eingesetzt habe. Im zweiten Teil präsentiert Julia Thyroff die Jugoslawienkriege in zwei geschichtsdidaktischen Beiträgen, indem sie den theoretischen Horizont des Gegenstandes entfaltet und anschließend analysiert, wie er in dem Schweizer Lehrplan 21 für die Sekundarstufe I und entsprechenden Geschichtslehrmitteln, hier wählt sie drei Schulbücher, thematisiert wird. Zentrale Begriffe sind dabei Heterogenität, Alterität und Identität. Die kritische Bilanz Thyroffs zeigt, dass die Geschichtsdidaktik trotz aller Bemühungen am Anfang steht und die Lehrmittel erheblichen Nachholbedarf haben. Richtungsweisend scheint mir diesbezüglich der Hinweis Oliver Plessows im vorletzten Beitrag des Bandes, der den Begriff "Intersektionalität" nutzt, um "Identität" neu zur Diskussion zu stellen. An verschiedenen Stellen rahmen die Beiträge Heterogenität, um auf diese Art und Weise menschenverachtende Feindbilder auszuschließen, einerseits durch das Bekenntnis zu Menschenwürde und Demokratie, andererseits durch die Verpflichtung auf Triftigkeit. Letzteres findet sich dort, wo es um die De-Konstruktion von Geschichtsbildern geht.
Teil III des Sammelbandes geht diesbezüglich auf die Schweiz ein. Thomas Bürgisser zeigt, wie das im Kalten Krieg zunächst durchaus positive Jugoslawienbild in den 1990er Jahren in sein genaues Gegenteil umgeschlagen ist. Kathrin Pavic konzentriert sich auf das "Serbenbild" in der Schweiz und Nadine Gautschi auf "Bildungserfahrungen Schweizer Romnija mit exjugoslawischer Herkunft". Ähnlich multiperspektivisch wird in Teil IV mit Blick auf den postjugoslawischen Raum argumentiert. Elisa Satjukow verdeutlicht die serbische, Petra Hamer die bosnische, Shkelzen Gashi die serbische und die kosovarische Sicht. Letztere wird von Franziska Anna Zaugg als eine longué duree von Gewalt und Erinnerung interpretiert. Um De-Konstruktion geht es letztlich auch im fünften und letzten Teil des Bandes, der anhand unterschiedlicher Medien pragmatische Vorschläge für den Geschichtsunterricht macht. Elke Schlote und Susanne Grubenmann entwickeln eine Unterrichtseinheit zu youtube-Clips, Oliver Plessow diskutiert die didaktischen Möglichkeiten dreier in der Schweiz entstandener Spielfilme und Kathrin Pavic zeigt die Möglichkeiten, die sich aus der Interpretation von Karikaturen zum "Pulverfass Balkan" ergeben. Dieser Topos ist bereits zuvor in verschiedenen anderen Beiträgen dekonstruiert worden, sodass sich interessante Verbindungslinien ergeben. Schlote und Grubenmann klammern übrigens in ihrem Vorschlag explizit Materialien aus, die Täter-/Opferschemata bedienen oder die Grausamkeit der Jugoslawienkriege schildern. Dies ist, von den Schüler*innen her gedacht, um die es in ihrem Unterrichtsbeispiel geht, unzweifelhaft richtig. Viele von ihnen haben einen postjugoslawischen Hintergrund, sodass möglicherweise die von Nada Boskovska genannten Probleme der Vergangenheitsbewältigung den Lernprozess stören könnten. Gabriele Danninger schlägt interessanterweise vor, im Unterricht nicht den Krieg, sondern die verschiedenen und zum Teil auch erfolgreichen internationalen Versuche der Friedenssicherung zu thematisieren. Es muss sicherlich immer neu bedacht werden, was in bestimmten Klassen machbar ist, gerade wenn es um belastete und belastende Gegenstände wie die Jugoslawienkriege geht.
Den Rezensenten hat in dem Sammelband auf den ersten Blick überrascht, dass demokratische Werteerziehung eine wichtige Rolle spielt, darüber hinaus aber ein problemorientierter Gegenwartsbezug gerade in den geschichtsdidaktischen Konkretisierungen fehlt. Diese Lücke scheint mir didaktisch legitim, weil sie das Unterrichtsgeschehen entlastet. Ohne expliziten Gegenwartsbezug ist aber keine Narration, keine Konstruktion von Geschichten, möglich. Zwar setzte schon Karl-Ernst Jeismann vor Allem auf De-Konstruktion, als er nach 1945 demokratiefeindliches und deshalb "feuergefährliches" Geschichtsbewusstsein durch Analyse und Sachurteil relativieren und bewältigen wollte. Historisch-politische Bildung wird aber, so meine These, nicht ohne "demokratische" Narrationen auskommen, ohne dass ich selbst sagen könnte, wie sie in der Schweiz so über die Jugoslawienkriege erzählt werden könnten, dass sie dort eine entsprechende, auf Demokratie hin orientierende Wirkung entfalten.
Jörg van Norden