Rezension über:

Thomas Harrison / Elizabeth Irwin (eds.): Interpreting Herodotus, second impression, Oxford: Oxford University Press 2018, XVIII + 425 S., ISBN 978-0-19-880361-4, GBP 90,00
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Rezension von:
Oliver Schelske
Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Oliver Schelske: Rezension von: Thomas Harrison / Elizabeth Irwin (eds.): Interpreting Herodotus, second impression, Oxford: Oxford University Press 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 11 [15.11.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/11/32188.html


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Thomas Harrison / Elizabeth Irwin (eds.): Interpreting Herodotus

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Im vorliegenden Band versammelt finden sich insgesamt 14 zum Teil ausführliche Beiträge einschlägiger Herodotkenner. Erklärtes Ziel ist die konzertierte Auseinandersetzung mit dem herodoteischen Text "durch die Linse" (1) von Charles Fornaras Herodot-Essay von 1971. Die einzelnen Beiträge des Bandes greifen zentrale Fragen aus Fornaras Arbeit auf und entwickeln diese vor dem Hintergrund der Ergebnisse von fast 50 Jahren Herodotforschung weiter (in vielen Fällen mit von Fornara abweichenden bzw. modifizierten Ergebnissen). Dabei zeigt sich rückblickend gleichwohl, wie aktuell die von Fornara aufgeworfenen Deutungsmuster und seine Kontextualisierung Herodots weiterhin sind. Der Band ist, dies sei hier bereits vorweggenommen, eine willkommene und hilfreiche Lektüre für jeden, der sich mit Herodots Historien als einem Text, der in seinem zeitgenössischen Umfeld tief eingebettet ist und dessen komplexe Komposition zu immer neuer Auseinandersetzung mit ihm einlädt, angemessen beschäftigen will. Deutlich wird auch, wie bedeutend der von Fornara eingeschlagene Weg einer Kontextualisierung Herodots, die potentielle politische, zeitgenössisch-fachwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Aspekte des Textes gleichermaßen miteinbezieht, weiterhin ist - und dass dieser Weg noch nicht zu Ende gegangen ist. Dem Band ist, auch und gerade über den englischsprachigen Bereich hinaus, eine weite Leserschaft zu wünschen.

John Dillery (2. 'Herodotus' Book 2 and Hecataeus of Miletus', 17-52) konzentriert sich auf einen besonderen Teilaspekt der herodoteischen Darstellung, nämlich auf die polemische Auseinandersetzung mit Hekataios. Er sieht in Buch II ein "display piece, but a serious one", in dem es um die Grundfragen der Abfassung von Historiographie gehe (22). Ägypten im Sinne einer kulturellen Vormacht im Umgang mit der Vergangenheit und Hekataios im Sinn des (neben Homer) entscheidenden griechischen Vorgängers in der Darstellung ethnographischen Wissens waren die Gebiete (Ägypten) bzw. Namen (Hekatios), mit denen es sich auseinanderzusetzen galt, um eigene literarisch-wissenschaftliche Ansprüche zu formulieren (32). Auch Ewen Bowie (3. 'The Lesson of Book 2', 53-74) geht auf die Beziehung des herodoteischen Texts und v.a. von Buch II zu literarischen und vor allem dichterischen Vorgängern ein. Mit Blick auf die lange, nicht zuletzt auf Jacoby zurückgehende Tradition, insbesondere Buch II als denjenigen Teil des Werks zu verstehen, in dem am ehesten ein frühes, primär ethno- und geographisch (noch nicht: historiographisches) Schreiben Herodots vorliege, warnt Bowie vor voreiligen Schlüssen und schiefen Vergleichen. Buch II sollte als Ägyptenlogos anderen Logoi im Werk mit ebenfalls geographisch-ethnographischen Schwerpunkten gegenübergestellt werden, nicht den erzählerisch elaborierten Bücher I oder VII-IX.

Dass Buch II ein kohärentes Glied des Gesamttexts darstellt, betont (76) auch Reinhold Bichler (4. 'Herodotus' Book 2 and the Unity of the Work', 75-98). Er vermag zu zeigen, dass gerade die Ethnologie und die Religionsgeschichte der Ägypter Teil einer die gesamten Historien durchziehenden Erzählstrategie und -absicht sind. So diene die ausführliche Darstellung gerade Ägyptens - von keinem anderen Volk hätten die Griechen so viel gelernt (85) - als Warnung: Der Text der Historien verweise immer wieder, etwa durch die Erwähnung des gescheiterten Inarosaufstands unter athenischer Beteiligung (allerdings außerhalb von Buch II), auf die Gefahren allzu ausgeprägten Machtstrebens.

Eine zeitpolitische Aspekte miteinbeziehende Auseinandersetzung mit Buch II stellt auch der Beitrag von Christopher Tuplin dar (5. 'Dogs That Do Not (Always) Bark. Herodotus on Persian Egypt', 99-123), der detailreich argumentierend verschiedene 'Lücken' der herodoteischen Darstellung ("silences") nach der Eroberung Ägyptens durch die Perser benennt. Da entsprechendes Wissen bei Herodot gleichzeitig vorauszusetzen ist, werfe das Auslassen vieler zu erwartender Informationen zu "[p]ost-Cambyses events in Egypt" Fragen auf. Systematisch erklären lasse sich, so Tuplins Fazit, das herodoteische 'Schweigen' in vielen Fällen nicht ("[L]acunae and lack of system abound.", 119), was allerdings auch beim Leser des Beitrags ein gewisses Fragezeichen hinterlässt.

Robert Rollinger (6. 'Herodotus and the Transformation of Ancient Near Eastern Motifs. Darius I, Oebares, and the Neighing Horse') widmet sich am Beispiel der Geschichte von Dareios, seinem Stallknecht und der wiehernden Stute (III 84-89) der Aufnahme altorientalischer Erzählmotive in die herodoteischen Historien. Kai Ruffing (7. 'Gifts for Cyrus, Tribute for Darius', 149-161) zeigt auf, wie die herodoteische Darstellung insbesondere von Kyros und Dareios eng verbunden ist mit Entwicklungen im Athen des 5. Jahrhunderts (149). Insbesondere die Bezeichnung des Dareios als 'Krämer' (Hdt. III 89) im Sinne eines Herrschers, der nicht zuletzt wirtschaftlich orientiert regiert habe, deutet Ruffing als Anspielung auf das athenische Streben nach ökonomischem Erfolg im 5. Jahrhundert. Dareios unbestrittener finanzieller bzw. wirtschaftlicher Erfolg diene vor dem Hintergrund des Scheiterns der persischen Invasionspläne gegenüber (einem armen) Griechenland als Warnung.

Emily Greenwood (8. 'Surveying Greatness and Magnitude in Herodotus', 163-186) betrachtet, ausgehend von Ausdrücken wie ἐπεξιών in I 5 (164f.), den Herodottext als eine zeitlich wie räumlich konzipierte Reise, auf die der herodoteische Erzähler seine Rezipienten mitnimmt ("the figuration of the narrative as a physical journay", 167). Auf diese Weise unterweise Herodot seine Leser darin, geopolitische Machtstrukturen und ihre Veränderungen im Laufe der Zeit zu verstehen (165). Joseph Skinner (9. 'Herodotus and his World', 187-222) mahnt zur Überwindung unnötiger 'Wahrnehmungsfilter' (etwa in Hinsicht auf die moderne Bezeichnung weiter Teile des Werks als 'Ethnographie' und damit einhergehende Erwartungshaltungen, 205). Dies könne erheblich dazu beitragen, die Gedankenwelt Herodots wie seines Publikums abzustecken (222). Vor allem ein vermeintlich herodoteisches Konzept einer distinkten griechischen (d.h. nicht-barbarischen) Identität sei im Text nicht angelegt ("Reality was far messier", 214f.). Jonas Grethlein (10. 'The Dynamics of Time. Herodotus' Histories and Contemporary Athens Before and After Fornara', 223-242) greift die interessante Frage auf, warum eigentlich die herodoteischen Anspielungen auf zeitpolitische Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts so dezent sind. Grethlein vermutet, dass Herodot die Schwierigkeit, angesichts stetig fortschreitender historischer Entwicklungen ("the destabilizing force of time", 228) verlässliche Erkenntnisse und damit: stabile Bewertungsmöglichkeiten gewinnen zu können, im Sinne eines grundlegenden Problems (für einen Historiker) erkannt habe. Grethleins Herodot steht somit methodisch Thukydides in nichts nach - vielleicht im Gegenteil.

Wolfgang Blösel (11. 'Herodotus' Allusions to the Sparta of his Day', 243-264) widmet sich dem im Unterschied zum Athenbild weniger erforschten Spartabild (244) der Historien. Das Verhalten der Spartaner als "collective actors" werde immer wieder als unzuverlässig und unaufrichtig dargestellt, was mit Blick auf spätere Entwicklungen im 5. Jahrhundert bis zum Archidamischen Krieg, so Blösel, nicht als Negativfolie für eine positive Athen-Darstellung zu verstehen sei, aber doch als eine Warnung an mögliche Verbündete vor allzu großem Vertrauen in Sparta (264). P. J. Rhodes (12. 'Herodotus and Democracy', 265-277) hinterfragt in seinem Beitrag Fornaras These, dass für Herodot vor allem die Freiheit, weniger die Demokratie ein zentrales Element seiner Darstellung des griechischen Sieges über die Perser gewesen sei (266). Rhodes weist dabei darauf hin, dass die Termini für Demokratie, Aristokratie und Monarchie ohnehin vermutlich erst im zweiten Viertel des 5. Jahrhundert geformt worden seien (267). Eine im Vergleich zu Athen positivere Beurteilung Spartas durch den herodoteischen Erzähler kann Rhodes nicht erkennen (277). Elizabeth Irwin hingegen (13. 'The End of the Histories and the End of the Atheno-Peloponnesian Wars', 279-334), sieht im herodoteischen Werk eine Retrospektive auf Perikles bzw. auf dessen Politik, die zum Ausbruch des Peloponnesischen Krieges geführt habe (279f.). Der Text der Historien insgesamt sei "at heart an oblique narrative about the 'growth' of Athens' arche" sowie über denjenigen, der für athenischen Expansionismus und letztlich den Niedergang Athens verantwortlich sei (sc. Perikles) - und damit gegen jeden 'apologetischen' Versuch gerichtet, diese Verantwortung nicht klar zu benennen, sprich gegen Thukydides (334). Thomas Harrison schließlich (14. 'The Moral of History', 335-355) geht ausgehend von Fornaras Formulierung "History became moral and Herodotus didactic" (335; 341) der Frage nach einer möglichen Lehre oder 'Moral', die den herodoteischen Historien inhärent ist, nach. Das Bewusstsein der Unvorhersehbarkeit historischer Entwicklung (354) und vor allem eine an Vorsicht und Umsicht orientierte innere Grunddisposition (355) stellen dabei nach Harrison so etwas wie die "ultimate moral of history" dar.

Die insgesamt 14 Beiträge des Bandes (inkl. Einleitung), bieten, um dies zusammenzufassen, dem Leser einen guten Überblick über aktuelle Fragen der Herodotforschung mit aktuellen Antworten und Stellungnahmen. Alle Beiträger haben sich durch frühere Beiträge bereits in ihrem jeweiligen Thema als profunde Kenner Herodots und ihrer jeweiligen Fragestellung etabliert. Der Band liest sich damit, ohne es sein zu wollen, (auch) wie ein Handbuch zur Herodotforschung auf den Bahnen, die Fornara gebahnt hat, ohne allerdings eigene, frühere Forschungspositionen einfach gekürzt zu wiederholen. Fornaras Herodot lebt, könnte man sagen, und nicht nur dies: Er hat sich auch weiterentwickelt. Positiv hervorgehoben sei zuletzt, dass Beiträger aus dem angelsächsischen wie dem deutschsprachigen Bereich gleichermaßen vertreten sind - was die Gesamtperspektive des Bandes in Ergänzung zur Qualität der Einzelbeiträge ebenfalls zur angenehmen Lektüre macht und der internationalen Herodotforschung einen guten Dienst erweist.

Oliver Schelske