Rezension über:

Ursula Goldenbaum / Alexander Košenina (Hgg.): Berliner Aufklärung (= Kulturwissenschaftliche Studien; Bd. 7), Hannover: Wehrhahn Verlag 2020, 204 S., ISBN 978-3-86525-771-0, EUR 22,00
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Rezension von:
Jana Kittelmann
Berlin / Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Jana Kittelmann: Rezension von: Ursula Goldenbaum / Alexander Košenina (Hgg.): Berliner Aufklärung, Hannover: Wehrhahn Verlag 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 11 [15.11.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/11/34827.html


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Ursula Goldenbaum / Alexander Košenina (Hgg.): Berliner Aufklärung

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Zu den geschätzten Beständen im Bücherregal, zu denen man immer wieder greift und zugleich auf Erscheinen des nächsten Bandes gespannt ist, zählen die von Ursula Goldenbaum und Alexander Košenina herausgegebenen kulturwissenschaftlichen Studien zur "Berliner Aufklärung". Im Rahmen der (nicht nur) in der Aufklärungsforschung fest etablierten Reihe ist nun der siebte Band veröffentlicht worden. Dem Anspruch eines interdisziplinären Profils, mit dem sowohl neue Perspektiven eröffnet als auch ein vielseitig interessiertes Publikum angesprochen werden soll, wird auch dieser Band mehr als gerecht.

Tatsächlich bestechen die hier publizierten acht Beiträge durch die Präsentation und Auswertung kaum bekannter Quellen, durch erfrischende Einblicke in Diskussionen und Diskurse jenseits eines bisweilen zu eng gefassten Forschungskanons, durch die Fokussierung auf wenig oder nur unzureichend Wahrgenommenes, das sich bei näherer Beschäftigung jedoch als überaus aufschlussreich und geradezu grundlegend für das Verständnis der Epoche entpuppt. Dass die Palette der Themen breit gefächert, aber durchaus gut aufeinander abgestimmt und das Nebeneinander verschiedener Fachdisziplinen intendiert ist, macht die Lektüre spannend, abwechslungs- und ertragreich. Verschiedene, mit der Berliner Aufklärung in mehr oder weniger enger Verbindung stehende Gelehrte und Akteure wie Aaron Salomon Gumpertz, Oluf Gerhard Tychsen oder Johann August Eberhard, Ereignisse wie der Berlin-Aufenthalt des jungen Salomon Gessner, Debatten wie eine Literarturfehde zwischen Ludwig Tieck und August Wilhelm Iffland oder Jean Henri Samuel Formeys Eintreten für die Wolffische Position innerhalb der Akademie sowie bildkünstlerische Objekte wie Daniel Chodowieckis Serie "Modethorheiten" und ein Porträt des preußischen Ministers Graf Ewald Friedrich von Hertzberg werden in den Blick genommen und an und mit ihnen unterschiedliche Aspekte der Aufklärungsforschung diskutiert.

Im Zuge der Lektüre stellen sich zahlreiche Aha-Erlebnisse und neue Erkenntnisse ein. So etwa schon im ersten Beitrag von Hans-Uwe Lammel, der mit den jüdischen Ärzten Leon Elias Hirschel und Aaron Salomon Gumpertz zwei lange Zeit nur wenig beachtete Nebenfiguren (eine Ausnahme bildet ein 2006 erschienener Aufsatz Detlef Dörings zu dem "aufgeklärten Juden" Gumpertz) ins Blickfeld rückt und diese als für die "vordohmsche Zeit" zentrale "Mediatoren zwischen Juden und Christen" (10) porträtiert. Mit der vergleichenden Auswertung der Autobiographien Gumpertz' und Hirschels - innerhalb der dünnen Quellenlage jüdischer Lebenszeugnisse aus der Zeit durchaus eine Seltenheit - spürt Lammel eindrücklich dem Werdegang der beiden und zugleich der Frage nach, wie aus den "Waisenkindern des Wissens" jüdische Aufklärer wurden und welche unterstützende Rolle dabei die "aufgeklärten und freidenkerischen Gelehrten der Berliner französischen Kolonie" spielten (34). An den christlich-jüdischen Austausch knüpft der Beitrag von Malgorzata A. Maksymiak an. Sie widmet sich dem von Konkurrenz gezeichneten Verhältnis zwischen dem Rostocker Orientalisten Oluf Gerhard Tychsen und Moses Mendelssohn, die nie im persönlichen Kontakt, sondern öffentlich u.a. durch scharfe Kritiken miteinander kommunizierten. In seiner kundigen Beschäftigung mit der Auseinandersetzung zwischen Mendelssohn und Tychsen schärft der Beitrag zugleich die Konturen des Letzteren, insbesondere dessen "Selbstinszenierung als 'christlicher Rabbiner', als christlicher Reformer der Juden" (46).

Ebenso erhellend und aufschlussreich sind Maximilian Bachs Ausführungen zum Berlin-Aufenthalt des jungen Salomon Gessner, der sich als Lehrling der Verlagsbuchhandlung Haude und Spener seit 1749 in der aufstrebenden Literaturmetropole aufhielt und dort zahlreiche und lebenslang andauernde Kontakte zu Karl Wilhelm Ramler, Ewald Christian von Kleist und Friedrich Nicolai knüpfte. Bachs Anmerkungen und die von ihm erschlossenen Archivalien geben sowohl Einblicke in den Schweizerisch-Preußischen Kulturtransfer als auch in die "Gründungsphase der bürgerlichen Aufklärung" in Berlin. Gessner, der mit den von ihm verfassten "Idyllen" zum Literaturstar avancierte, prägte bekanntlich die empfindsam-bukolische Ikonographie der Aufklärung nachhaltig. Ein (politisches) Bildprogramm ganz anderer Art verfolgte dagegen Chodowiecki mit seiner im "Berliner genealogischen Kalender auf das Jahr 1789" publizierten Serie "Modethorheiten", die Alexander Košenina in den Blick nimmt. Eingebettet in die damalige "Mode von Kriminalfallgeschichten" (108) und inspiriert durch Beispiele in der "Berliner Monatsschrift" stellte Chodowiecki Fallgeschichten (etwa zu den kriminellen Umtrieben von Johann Paul Philipp Rosenfeld) vor und lieferte dabei einen populären, auf das größere Publikum ausgerichteten Beitrag im aufklärerischen Kampf gegen "Aberglauben, religiöse Verblendung und naive Treuherzigkeit" (107). Die Wirkmacht der Bilder wird dabei sowohl durch Košeninas Erläuterungen als auch durch die farbigen Abbildungen ausgewählter Kupferstiche eindrücklich vor Augen geführt. Im Umkreis von Chodowiecki entstanden ist ein bislang unbekanntes Porträt des Grafen Ewald Friedrich von Hertzberg, das Johannes Rößler vorstellt und zum Anlass nimmt, an den Künstler Daniel Berger sowie an die ambivalente Rolle Hertzbergs in der Berliner Spätaufklärung zu erinnern.

Eine Brücke zu den "Dichotomisierungsbewegungen" (135) der Zeit um 1800 schlägt der Beitrag von Annette Antoine, die das Spannungsverhältnis zwischen einem spätaufklärerischen funktionalen Literaturverständnis und den frühromantischen Bestrebungen nach Kunstautonomie am Beispiel einer Debatte zwischen Ludwig Tieck und August Wilhelm Iffland skizziert und dabei zugleich erhellende Einblick in die zeittypischen Kontroversen um zentrale Größen und Begriffe wie "Publikum", "Scherz" und "Satire" liefert.

Tinca Prunea-Bretonnet kehrt mit ihren Ausführungen zu einem Akademievortrag von Jean Henri Samuel Formey über den Beweis für die Existenz Gottes aus den Zweckursachen der Natur aus dem Jahr 1747 dann noch einmal in die Jahrhundertmitte zurück. Bemerkenswert an ihren Ausführungen, die sich in die aktuellen Forschungen zu Formey (etwa die jüngst erschienenen Studien von Martin Fontius und Jens Häseler zum Nachlass des Akademiesekretärs) einreihen, ist dabei die Beobachtung, dass Formey mit seinem Vortrag, den Versuch unternahm, die Philosophie Wolffs gegen das Lager um Maupertuis und Euler stark zu machen, und dass schon einige Jahre vor deren bekannterer Kontroverse mit Samuel König. Schließlich rundet Hagar Spano mit seiner Annäherung an die "intellektuelle Figur" (185) Johann August Eberhards den Band in einer für die Reihe durchaus charakteristischen Weise ab: Mit Hinweisen auf nur wenig bekannte Dokumente und Schriften arbeitet er die Originalität des Hallensers, jenseits der Diskussionen in der Kant-Forschung und einer damit verbundenen "Perspektive der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Kritizismus" (ebd.), heraus.

Nach der Lektüre der originellen, sachkundig formulierten und trotz ihrer verschiedenen Themen ein stimmiges Gesamtbild ergebenden Beiträge will man kein Fazit ziehen. Angeregt durch die beachtliche Dichte an Impulsen und Ideen, die der Band auf knapp 200 Seiten liefert, geht man lieber gleich ans Weiterforschen.

Jana Kittelmann