Wolfgang Mährle (Hg.): Nation im Siegesrausch. Württemberg und die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71. Begleitbuch zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Stuttgart: W. Kohlhammer 2020, 384 S., ISBN 978-3-17-038182-7, EUR 35,00
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Anka Muhlstein: Der Brand von Moskau. Napoleon in Rußland. Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, Frankfurt/M. / Leipzig: Insel Verlag 2008
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Nicole Bickhoff / Wolfgang Mährle (Hgg.): Armee im Untergang. Württemberg und der Feldzug Napoleons gegen Russland 1812, Stuttgart: W. Kohlhammer 2017
Oft war von einem "vergessenen Krieg" die Rede, wenn 2020 an den Beginn des Deutsch-Französischen Krieges vor 150 Jahren erinnert wurde. Bücher, Tagungen und Ausstellungen versuchten dies zu ändern. In Stuttgart stellte das Landesarchiv Baden-Württemberg die spezifisch württembergische Sicht auf Krieg und Reichsgründung aus. Dabei standen das Kriegserlebnis, die nachträgliche Deutung und Württembergs Verhältnis zum Reich im Mittelpunkt. Die regionale Perspektive wird im vorliegenden Katalog durch Aufsätze namhafter Wissenschaftler erweitert und die Schau in übergreifende Fragestellungen eingebettet.
Ewald Frie etwa befasst sich mit dem schillernden Charakter des 1871 gegründeten Deutschen Reichs zwischen Imperium und Nationalstaat; Amerigo Caruso thematisiert die Bedingungen unter denen Monarchien im Zeitalter des Nationalismus überlebten oder verschwanden. Ute Planert widmet sich grundsätzlich dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts, den sie als "Frankensteins janusköpfiges Monster" beschreibt (24). Gerhard Groß behandelt den Deutsch-Französischen Krieg aus militärhistorischer Sicht. Er macht deutlich, dass die Kämpfe für die deutsche Seite keineswegs ein Spaziergang waren. Die Neigung preußischer Offiziere zum Frontalangriff habe anfangs zu katastrophalen Verlusten geführt; der hartnäckige Widerstand der Franzosen auch nach ihrer Niederlage bei Sedan habe das deutsche Heer gar "an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit" gebracht (38).
Wolfgang Mährle beschreibt dann den konkreten württembergischen Kriegsbeitrag. Dieser konnte nicht herausragend sein, weil gerade einmal 2,6 Prozent der eingesetzten deutschen Truppen aus Württemberg kamen (48). Propagandistisch nutzbar war die Abwehr eines französischen Ausbruchsversuchs aus dem belagerten Paris bei Champagny im November 1870. Diese bestandene Bewährungsprobe habe Zweifel an der "Einsatzbereitschaft und Motivation" der 1866 noch sang- und klanglos von den Preußen geschlagenen Württemberger zerstreut (60). Als Grund für die verbesserte Performance macht Mährle vor allem eine "höhere Motivation" im "Nationalkrieg" von 1870/71 aus (62).
Dies verweist auf die ideologische Aufladung des Konflikts, der sich Frank Becker ausführlich widmet. Zahlreiche Propagandisten hätten den Krieg zu einem "Rassenkampf" stilisiert und einen ethnischen Gegensatz zwischen "Germanentum und Romanentum" konstruiert (66). Dahinter stand laut Becker das Ziel, der Auseinandersetzung eine existentielle Note zu verleihen und so die Fortführung des Krieges nach der Niederlage Napoleons III. bei Sedan zu rechtfertigen.
Dass diese Propaganda nicht vollumfänglich verfing, zeigt Tobias Arands Auswertung bürgerlicher Kriegserinnerungen. Darin würden die französischen Feinde keineswegs grundsätzlich herabgesetzt (abgesehen von Kolonialtruppen und Freischärlern). Trotz "vordergründigem Hurrapatriotismus" ließen manche Veteranen in ihren Erinnerungen auch erkennen, wie traumatisch die Erlebnisse für sie waren. Arand verweist darauf, dass es sich 1870/71 bereits um einen "industriellen Krieg" gehandelt habe, der zusammen mit Partisanenkrieg und ideologischer Radikalisierung "die Schrecken des 20. Jahrhunderts" vorweggenommen habe (89). Selbst Kronprinz Wilhelm schwankte in Briefen an seine Mutter Katharina zwischen Begeisterung über die eigenen Erfolge und Entsetzen über die Opfer des Konflikts, wie Albrecht Ernst zeigt.
Mit dem württembergischen Königshaus befasst sich auch Nicole Bickhoff, dabei geht es um dessen Verhältnis zum Nationalstaat. Bickhoff zeigt, dass der "Mittelstaat" Württemberg zu schwach war, um nach 1866 souverän bzw. neutral zu bleiben. Dennoch habe sich König Karl nur höchst widerwillig auf die preußische Seite gestellt. Sogar Bayern sei früher dem Norddeutschen Bund beigetreten als Württemberg. Karl blieb der Kaiserproklamation in Versailles ebenso fern wie Ludwig II. von Bayern und wahrte laut Bickhoff "Distanz zum neuen Reich" (134).
Flexibler zeigte sich der württembergische Adel, wie Daniel Menning darlegt. Die Adligen in der ersten Kammer des württembergischen Parlaments hätten 1866 noch geschlossen den Erhalt der einzelstaatlichen Selbständigkeit gefordert. In den folgenden Jahren schwenkten laut Menning jedoch vermehrt adlige Parlamentarier auf die kleindeutsche Seite um. Ende 1870 hätte schließlich die überwältigende Mehrheit für die Reichseinigung unter preußischer Ägide gestimmt. Diesen die ganze Bevölkerung erfassenden Stimmungswandel sieht Michael Kotulla als Ergebnis Bismarkschen Kalküls: Der preußische Ministerpräsident habe die Schutz- und Trutzbündnisse mit den süddeutschen Staaten von 1866 als Hebel gesehen, mit dem im Kriegsfall ein "nationaler Solidarisierungsschub" ausgelöst und die Reichseinigung vorangebracht werden könnte (151). Dieses Kalkül sei 1870 aufgegangen.
Wie weit die nationale Begeisterung in Württemberg wirklich ging, versucht zum Schluss Friedemann Schmoll zu ergründen. Er widmet sich der württembergischen Denkmalkultur nach 1871. Sein Befund fällt zwiespältig aus: Einerseits hätten Kriegerdenkmäler und bürgerliche Monumente auch in Württemberg Militarismus und preußisches Kaiserreich gefeiert. Andererseits sei die systembejahende Denkmalkultur durchaus an Grenzen gestoßen. Für ein Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I. in Stuttgart sei weit weniger gespendet worden als von den Initiatoren erhofft; im katholischen Ravensburg habe die Geistlichkeit 1890 vor dem Hintergrund des Kulturkampfes demonstrativ die Einweihung einer Kaiserbüste boykottiert. Auch den auf nationale "Homogenität" ausgerichteten Bismarck-Kult der wilhelminischen Zeit hätten die Württemberger nur sehr bedingt mitgetragen. Dies interpretiert Schmoll als Beleg für einen "föderativen Nationalismus", der "Zentralisierungsbestrebungen" abgelehnt habe (179).
Der eigentliche Ausstellungskatalog zeigt dann, dass sich die Schau des Hauptstaatsarchivs keineswegs darin erschöpfte, ein paar verstaubte Dokumente zu zeigen. Es finden sich neben der ein oder anderen tatsächlich eher spröden "Flachware" viele interessante Zeugnisse, etwa das Original des "Schutz- und Trutzbündnisses" zwischen Württemberg und Preußen von 1866 oder die originale Beitrittsurkunde Württembergs zum Deutschen Reich von 1870. Hinzu kommen beeindruckendes Fotomaterial, etwa von dem württembergischen Fotografen Paul Sinner, bildgewaltige Schlachtengemälde, z. B. von Otto Faber du Faur, und 3-D-Objekte wie das berühmte preußische "Zündnadelgewehr".
Insgesamt ergibt sich aus Katalog und Aufsätzen ein durchaus tiefgründiges Panorama des "vergessenen Krieges" bzw. der Reichseinigungszeit mit regionalem Schwerpunkt. Bahnbrechend neue Erkenntnisse sind damit nicht verbunden, wohl aber interessante Akzente. So gelingt es dem Band eindrücklich, den erbitterten Charakter der Kämpfe von 1870/71 und das Grauen auch dieses vergleichsweise kurzen Krieges zu evozieren. Es stellt sich die Frage, ob diese Auseinandersetzung nicht verharmlost wird, wenn sie als bloße Fußnote der angeblich hundertjährigen Friedensperiode nach dem Wiener Kongress abgetan wird. Sehr deutlich wird auch die Stärke des württembergischen Partikularismus herausgearbeitet. Um diesen zu überwinden bedurfte es der Wirkung der "deutschen Siege" (277) bzw. des auch in Württemberg grassierenden "Siegesrausches". Ein Gefühl, das in Deutschland nach zwei verlorenen Weltkriegen und damit verbundenem moralischen Bankrott definitiv vergessen sein sollte.
Sebastian Dörfler