Steffen Patzold: Presbyter. Moral, Mobilität und die Kirchenorganisation im Karolingerreich (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters; Bd. 68), Stuttgart: Anton Hiersemann 2020, 599 S., ISBN 978-3-7772-2023-9, EUR 196,00
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Steffen Patzolds 2008 veröffentlichte Habilitationsschrift trägt den lapidaren Obertitel Episcopus. [1] Sein jüngstes Buch ist ebenso kurz betitelt: Presbyter. In der kirchlichen Hierarchie steht der Priester unter dem Bischof. Aber wie groß ist der Abstand? Folgt man dem Bischof Theodulf von Orléans (gest. 821), ist er nicht groß: Von "Brüdern und Mitpriestern" spricht er in einem an sie adressierten Text (13). Ganz anders die Sicht des Juristen Ulrich Stutz (gest. 1938): Arm und ungebildet seien die ländlichen Priester des Frühmittelalters gewesen, ehemalige Unfreie, vom Eigentümer der Kirche, an der sie dienten, erst für ihr Amt freigelassen und immer noch unter seiner Fuchtel - um nicht zu sagen: Peitsche - stehend, während der größte Teil der Einkünfte ihrer Kirchen an den Kirchenherrn ging.
Diese beiden Positionen, die des zeitgenössischen Kirchenmannes und die des modernen Wissenschaftlers, die mittlerweile freilich auch schon 125 Jahre alt ist, als Lehre von der (germanischen) 'Eigenkirche' aber bis heute Handbücher wie Forschungsbeiträge bestimmt (zumindest im deutschsprachigen Raum), stellt Patzold am Beginn seines Buches einander scharf gegenüber. Und er lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er steht: auf der des karolingischen Bischofs. Das Buch ist also ein Anti-Stutz.
Eine derartige Charakterisierung wäre allerdings einseitig. Patzold arbeitet sich keineswegs einfach an den von Stutz so wirkmächtig formulierten Positionen ab, denen er im Anschluss an die Einleitung das zweite Kapitel (25-47) widmet und auf die er im letzten Kapitel zurückblickt - nun aus einer erweiterten Perspektive (477-502). Vielmehr entwirft er in den sieben so eingerahmten Kapiteln, die den Kern des Buches bilden, ein eigenes Bild von den lokalen Priestern im Karolingerreich. Zunächst werden die "Rahmenbedingungen: Correctio und Kirchenorganisation" beschrieben (Kap. III; 49-88). Dann werden die recht unterschiedlichen Lebensbedingungen lokaler Priester (Kap. IV; 89-158), die "Rechtsgrundlagen" ihrer Tätigkeit (Kap. V; 159-239) und die Frage des Kirchenzehnts (Kap. VI; 241-303) untersucht. Das siebte Kapitel fragt nach "Ausbildung und Wissen lokaler Priester" (305-388). Schließlich stehen die familiären Beziehungen (Kap. VIII; 389-417) und das weitere soziale Umfeld der Priester (Kap. IX; 419-475) im Fokus. Die Rekurse auf und Auseinandersetzungen mit Stutz fallen je nach Thema unterschiedlich intensiv aus: In den vor allem kirchen- und besitzrechtlich ausgerichteten Kapiteln V und VI naturgemäß stärker, im folgenden Kapitel zum intellektuellen Profil der Landpriester taucht er praktisch nicht auf. Auch das liegt in der Natur der Sache, ging es Stutz doch um den Status der Kirchen, nicht eigentlich um deren Priester, so dass sein Blick auf sie einseitig und beschränkt blieb.
So überzeugt Patzolds Sicht denn auch stärker noch als durch seine - immer plausible - (Detail-)Kritik an Stutz durch das Gegenbild, das er der 'Eigenkirche' entgegenstellt. Man kann die Hauptlinien dieses Bildes auf jene Begriffe bringen, die im Untertitel des Buches stehen. Da ist es programmatisch, dass der erste Begriff "Moral" lautet. Damit ist klar zum Ausdruck gebracht, dass die karolingische Niederkirche doch etwas mehr war als die "vielleicht vorteilhafteste Kapitalanlage" der Zeit (Stutz, zitiert 262, Anm. 83). Diese Priorität erinnert stark an Gerd Tellenbachs Deutung des Investiturstreits.
Aus dieser Akzentsetzung ist es - nebenbei bemerkt - konsequent, dass der Autor den von Percy Ernst Schramm bereits 1964 in die Debatte geworfenen Begriff der 'Correctio', die Patzold als "das christliche 'Qualitätsmanagement'" (20) der Karolingerzeit charakterisiert, der ebenso problematischen wie unbeliebten, aber gleichwohl nicht totzukriegenden Bezeichnung 'Karolingische Renaissance' vorzieht. Ob der Autor mit seiner "Wortgebrauchspolitik" (Hermann Lübbe) mehr Erfolg haben wird als Schramm?
Der zweite Begriff des Untertitels, "Mobilität", erschließt sich wohl am wenigsten auf den ersten Blick. Der Rezensent kann nicht verhehlen, dass er zunächst den Verdacht hegte, die Aufnahme des Wortes verdanke sich der "Tübinger Kollegforschungsgruppe 'Mobilität und Migration in Spätantike und Frühmittelalter'" (11), in deren Rahmen das Werk entstanden ist. Aber wenn man sich vor Augen führt, dass die Unfreien eben die manentes (276), die "Bleibenden", an die Scholle gebundenen waren, erweist sich die Untersuchung der räumlichen Mobilität der Priester auf der Suche nach attraktiveren Stellen (die von den Bischöfen übrigens durchaus skeptisch gesehen und möglichst eng kontrolliert wurde) zugleich als eine auch soziale und damit in beiden Ausprägungen als ein weiteres Argument gegen Stutz.
Dagegen ist "Kirchenorganisation" als dritter Begriff aus dem Untertitel sofort einleuchtend. Er bezieht sich auf jene Aspekte, die Stutz vor allem interessiert haben, aber auch hier nimmt Patzold eine andere Sicht ein. Dies geschieht in zweierlei Hinsicht: Zum einen im Blick auf die materielle Ausstattung der Kirchen: Gegen die Ansicht, die Kirchenzehnten seien hauptsächlich den laikalen Kirchenherren zugutegekommen, rechnet er mit einem weitgehend nicht entfremdeten Zehnt, jedenfalls für die Karolingerzeit. Zum anderen bestimmt der Autor die Rolle der Bischöfe neu. Für ihn sind sie keineswegs die gegenüber 'ihrem' Klerus und dessen tatsächlichen Herren weitgehend ohnmächtigen Funktionäre, die ihre Schuldigkeit mit der Weihe des Kandidaten getan haben.
Sicherlich kann man die eine oder andere der herangezogenen Quellenstellen auch im Stutz'schen Sinne deuten, ohne sie verbiegen zu müssen. Auch kann man bemängeln, dass ein Aspekt, der für Stutz denkbar weit entfernt war, für jeden karolingischen Priester aber zentral, nämlich die Liturgie, kaum in den Blick genommen wird. Merkwürdig blass bleibt zudem der allzu knappe Ausblick auf die Kirchenreform (der Name Tellenbach fällt übrigens nicht). Und natürlich könnte man, wie zu jedem Buch, Fehler im Detail anführen. Dass für Letzteres kein Platz mehr bleibt, bedauert der Rezensent nicht.
Häufig zeigt sich der wissenschaftliche Fortschritt darin, dass lange für unanfechtbar gehaltene Positionen geschleift werden, ohne dass an ihre Stelle schon eine neue Interpretation gesetzt werden könnte. Das ist verdienstvoll, vielfach auch anregend, bleibt aber doch unbefriedigend. Dagegen setzt dieses Buch - und das macht die Lektüre so erfrischend - an die Stelle der alten, überwundenen Meisterzählung eine neue - ja, man muss es so sagen: eine neue Meistererzählung (auch wenn das wissenschaftspolitisch vielleicht nicht korrekt ist).
Anmerkung:
[1] Steffen Patzold: Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (= Mittelalter-Forschungen; 25), Ostfildern 2008.
Stephan Waldhoff