Moritz Florin / Victoria Gutsche / Natalie Krentz (Hgg.): Diversität historisch. Repräsentationen und Praktiken gesellschaftlicher Differenzierung im Wandel (= Histoire; Bd. 140), Bielefeld: transcript 2018, 234 S., 2 Farb-, 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-4401-2, EUR 34,99
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Zunehmend tritt in zeitgenössischen Diskussionen Diversität als wesentlicher, gleichwohl strittiger Begriff auf. Möglicherweise wird deshalb zuweilen angenommen, dass gesellschaftliche Diversität ein Phänomen erst der Gegenwart sei und dass Vielfalt innerhalb von Gesellschaften erst gegenwärtig zunähme.
Die moderne Unterscheidung zwischen Diversität als Synonym für Vielfalt und Diversität als Management-Konzept (215) nehmen die Beitragenden des Konferenzbands "Diversität historisch - Repräsentationen und Praktiken gesellschaftlicher Differenzierung im Wandel" zum Ausgangspunkt, um historische Konstellationen von Diversität und ihre Veränderungen näher zu betrachten. In zehn Beiträgen einschließlich Einleitung beschreiben die Autor:innen Differenzkategorien und "Praktiken des Unterscheidens" (9) mit dem Ziel, eine "langfristige historische Entwicklung" (10) von Diversität ausfindig zu machen.
Diversität wird von den Beitragenden demnach nicht statisch gesehen. Den einführend vorgestellten Konzepten der historischen Gender- Diversitäts- und Intersektionalitätsforschung anschließend, wird in drei Kapiteln vorgefundenen und konstruierten historischen Differenzkategorien mitsamt ihren Wechselwirkungen nachgespürt. Diese Methode folgt dem Gedanken, dass Differenzierungen oftmals Ursache der Ungleichheiten waren, die sie beschrieben. (9) Zum Umgang mit historischer Vielfalt, mithin seit langem Gegenstand auch der historischen Wissenschaften [1], bieten die Beiträge des Sammelbands mit dem Blick auf Differenzkonstellationen einen flexiblen Untersuchungsansatz und arbeiten historische Diversität in vielzähligen Merkmalen heraus.
Das Kapitel "Selbstpositionierungen und Zuschreibungen" (33-99) zeigt durch Differenz entstehende Grenzüberschreitungen anhand von fiktionalen Texten, Gerichtsakten und Selbstzeugnissen auf. Mit ihrer Analyse von Grimmelshausens Simplicissimus und der Courache sowie des Herkules und der Valeska in der Bucholtz'schen Wundergeschichte legt Victoria Gutsche dar, dass Kleidung in der Frühen Neuzeit Auskunft über Gruppenzugehörigkeiten inklusive des Geschlechts gab und offenbart die mit diesen vestimentär ausgedrückten Zugehörigkeiten einhergehende Differenz als "Produkt des Diskurses" (36). Ein Kleiderwechsel ermöglichte einen Wechsel des Geschlechts und zur anderen Geschlechterrolle, blieb jedoch zuweilen unerkannt.
Der Beitrag Eva Lehners zu sexuellen Praktiken in der Frühen Neuzeit hebt hervor, dass das Aufdecken selbstgewählter Geschlechterrollen mutmaßlich wenig Anstoß erregte oder zumindest verhandelbar war. Ihre Beziehung war auch in der Selbstwahrnehmung der gemeinsam lebenden Frauen legitim, deren Lebensgeschichten Lehner analysiert. Hingegen wurde gleichgeschlechtlichem Sex unter Frauen seitens der Judikative Widernatürlichkeit und damit Illegitimität zugeschrieben und konnte als Straftat gelten (55, 70 f.). Diese Anwendbarkeit des Forschungsbegriffs Diversität auf gesellschaftliche Praktiken und Beziehungen nimmt ebenso Annette Keilhauer auf, indem sie die die Standesgrenzen überschreitende Selbstkonstruktion in autobiographischen Schriften Valentin Jamerey-Duvals, Jean-Jacques Rousseaus und Marie-Jeanne Rolands untersucht. Anhand der Bedingungen der jeweiligen Standesprivilegien der Autobiograph:innen weist Keilhauer das Zusammenspiel verschiedener Differenzierungen nach, deren Dynamik das retroperspektive Schreiben intensivierte.
Konstruktionen und vorgefundene Konstellationen von Diversität balancieren die Beitragenden des zweiten Abschnitts "Konstruktionen und Kategorisierungen" (101-157) aus. Dass vormoderne Leprosien nicht zwingend Orte medizinischer Isolation waren, weist Fritz Dross für das Nürnberg des 16. Jahrhunderts nach, dessen Leprosium und seine Bewohner:innen in die städtische Welt inkludiert waren. Moritz Florin belegt, wie Zirkusse um 1900 "vorgefundene Vielfalt in eine [...] vermarktbare Formensprache" (128) überführten. Dabei boten sich zwar, durchaus emanzipatorisch zu nennende, Verdienstmöglichkeiten für die Darsteller:innen und dezente Möglichkeiten, soziale Missstände zu kritisieren. Jedoch wurde, so Florin, Vielfalt so gezeigt, dass sie die Bedürfnisse des Publikums befriedigte, also soziale Hierarchien verfestigte und Vorurteile bestätigte durch beispielsweise die Reproduktion bürgerlicher, weiblicher Geschlechterrollen (133) oder europäisierte Familiensettings bei Völkerschauen (129 f.).
Auch Dirk Niefangers Beitrag legt nahe, dass marginalisierten frühneuzeitlichen Berufsgruppen eine "gewisse Zugehörigkeiten zum System" (156) zugestanden wurde, da sie in die Ordnungssysteme von Ständebüchern aufgenommen wurden. Deren Konstruktion erlaubte, so Niefanger, weder das Weglassen von Gelehrten, Juden oder 'Zigeunern' noch ihre ausgrenzende Darstellung und Kategorisierung, die indes wandelbar war.
Eine Dynamik im Umgang mit Diversität thematisieren ferner die Beiträge zu "Konstellationen und Konzepten" (159-232), abgeschlossen von einer Einordnung der Rolle und Definitionen von Diversity und Diskriminierung in historischen und gegenwärtigen Konstellationen durch Margrit E. Kaufmann, die verständlich macht, weshalb Differenzierung es vermag, je nach Disposition historische und gegenwärtige Gesellschaftssysteme umzugestalten. Dem 2016 gewählten Konferenztitel "Konstellationen historischer Diversität. Europa, Russisches Reich und islamische Welt" (8) gemäß, stellen Julia Obertreis und Stephan Kokew russisch-imperiale sowie islamische Konzepte zum Umgang mit Vielfalt im eigenen Herrschaftsgebiet vor. Während Julia Obertreis aufarbeitet, wie im Russischen Reich der 1830er Jahre bis 1917 behördliche Maßnahmen der Kategorienfindung auf dezentrale Räume wirkten und somit diese Bemühungen, Diversität zu klassifizieren, als "wohl charakteristisch" (192) für zeitgenössische Imperien bezeichnet, findet Stephan Kokew Strategien für den Umfang mit Vielfalt und die Sicherung des inneren Friedens in Schriften muslimischer Gelehrter. Kokew zeichnet nach, wie Nichtmuslime zu Schutzbefohlenen und die "Auffassungen" Andersgläubiger im Islam klassifiziert und mitunter "anschlussfähig" (208) wurden.
Durch den sorgsamen Umgang mit Begriffen und Konzepten gelingt es den Beitragenden auch bei zuweilen dünner Quellenlage, inkludierende und ausgrenzende Differenzkategorien ausfindig zu machen und ihre zu Wechselwirkungen führende Veränderlichkeit im notwendigerweise knappen Rahmen des Sammelbandes vorzustellen. Diversität wird im jeweiligen historischen Setting nicht nur intersektional nachgezeichnet, sondern die Konstruktion der jeweiligen Differenz durch Institutionen oder individuelle Akteure dargestellt, ohne dabei zu versäumen, die Bedarfe nach weiterer Auswertung und Theoriebildung nachdrücklich zu benennen.
Historische Wandlungsprozesse in den verschiedenen untersuchten Regionen und Städten werden sichtbar gemacht und es wird auf die "Wandelbarkeit von [wissenschaftlichen] Kategorien und Konzepten" (31) selbst verwiesen. Die Annahme, dass Diversität nicht historisch sei, entkräftet der Band mühelos und zeigt ein großes Potential der vorgestellten Analysekategorie für die Geschichtswissenschaft auf.
Anmerkung:
[1] Der vorliegende Band reiht sich in erst seit kurzem unter dem Begriff Diversity / Diversität publizierten Forschungen ein. Vgl. im Verhältnis zur Genderforschung bspw. Peter C. Pohl / Hania Siebenpfeiffer (Hgg.): Diversity Trouble. Vielfalt - Gender - Gegenwartskultur, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016; zudem Christina Brauner / Antje Flüchter (Hgg.): Recht und Diversität. Lokale Konstellationen und globale Perspektiven von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Bielefeld: University Press 2020.
Tatjana Niemsch