Thomas W. Gaehtgens: Die brennende Kathedrale. Eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg, München: C.H.Beck 2018, 363 S., 13 Farb-, 88 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-72525-8, EUR 29,95
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In den letzten Jahren sind die Geschehnisse beim deutschen Einmarsch 1914 in Belgien und Nordfrankreich wieder in den Blickpunkt der Forschung geraten. Was genau geschehen ist und welche Deutungen adäquat sind, ist zum Gegenstand einer hitzigen Debatte geworden. [1]
Der Kunsthistoriker Thomas W. Gaehtgens widmet sich nun der Zerstörung der Kathedrale von Reims, der gotischen Krönungsstätte der französischen Könige. Ihn interessiert dabei weniger das reale Ereignis denn die symbolische Aufladung im Kulturkrieg und deren historische Voraussetzungen. Anders als manche Diskursgeschichte, bei der die realen historischen Ereignisse gar keine Rolle mehr spielen, referiert Gaehtgens zunächst konzise, was heute über die Geschehnisse im September 1914 bekannt ist. Demnach besetzten die Deutschen Reims beim Vormarsch gen Paris. Nach der unglücklichen Marne-Schlacht zogen sich die deutschen Truppen dann in die Forts vor Reims zurück. Die französische Armee zog in die Stadt ein, womit diese keine offene, unverteidigte und damit durch das Völkerrecht geschützte Stadt mehr war. Die Franzosen nutzten die Türme der Kathedrale nun für die Aufklärung und installierten auf dem Nordturm offenbar auch einen Scheinwerfer. Aus diesem Grund wurde dann auch die Kathedrale von deutscher Seite wiederholt unter Feuer genommen. Am 19. September 1914 fing ein Baugerüst am Nordturm Feuer und die Kathedrale stand in Flammen. Sie wurde aber keineswegs, wie zeitgenössisch häufig kolportiert wurde, vollständig zerstört, sondern nur beschädigt, dabei brannte der Dachstuhl aus. Bei Kriegsende ragte die Kathedrale einschließlich der Doppeltürme noch einsam aus der umgebenden Trümmerwüste hervor.
Wiederholt stellt Gaehtgens fest, dass keine Quellen und keine Plausibilität dafür sprächen, dass die Kathedrale planmäßig und zum Zwecke der Zerstörung eines nationalen Symbols beschossen wurde. Genau das war aber Kern der folgenden französischen Propaganda: Die deutschen Barbaren, Hunnen oder Vandalen hätten in einem einmütigen Akt, Ausfluss ihrer "Kulturre" (oft in dieser das Deutsche glossierenden Schreibweise), das nationale Heiligtum bewusst verwüstet. Diese Interpretation fand besonders in den USA weithin Anklang und wurde in eine entmenschlichende Bildersprache übersetzt.
Selbst pazifistisch gesinnte Schriftsteller wie Romain Rolland konnten sich diesem Deutungsmuster nicht entziehen. Er hielt den "Anschlag" auf die Kathedrale, wie er weithin genannt wurde, sogar für schlimmer als den Verlust von Menschenleben. Umgekehrt argumentierten die Deutschen: Der wünschenswerte Schutz von Baudenkmälern rechtfertige nicht die Gefährdung der eigenen Soldaten. Die Deutschen waren freilich in der Defensive und konnten der Flut der Bilder und hasserfüllten Vorwürfe nur umständliche Erläuterungen der militärischen Lage im September 1914 oder hilflose Deklamationen entgegensetzen. Auch diesen Propagandakrieg verloren sie. Immerhin führten die Anschuldigungen zur Einrichtung eines deutschen Kunstschutzes zu Sicherung der Kulturgüter in den besetzten Gebieten.
Wie so mancher Autor überschätzt Gaehtgens seinen Gegenstand etwas. Er hält die Zerstörung in Reims gar für den Auslöser des Kulturkriegs. Dabei führt er selbst an, dass bereits eineinhalb Monate zuvor der französische Philosoph Henri Bergson diesen mit einer ultimativen Feinderklärung eröffnet hatte, die für die folgende Auseinandersetzung bestimmend sein sollte: "La lutte engagée contre l'Allemagne est la lutte même de la civilisation contre la barbarie". [2] Und im berühmten Aufruf der 93 führenden deutschen Wissenschaftler und Schriftsteller "An die Kulturwelt!", der die Vorwürfe des Auslandes zurückwies, wird Reims, anders als Löwen, gar nicht erwähnt. [3]
Gleichwohl, die Zerstörung der Kathedrale wurde neben der Verletzung der belgischen Neutralität, der Zerstörung der Bibliothek von Löwen, den Erschießungen von Zivilisten in Belgien als Vergeltung für vermeintliche und tatsächliche völkerrechtswidrige Überfälle und der Versenkung der "Lusitania" zum Symbol für eine den Deutschen seit den Germanen innewohnenden Barbarei.
Die Stärke des Buches liegt nun darin, dass Gaehtgens die nationale Aufladung der Kathedrale seit dem 19. Jahrhundert veranschaulicht. Schriftsteller wie Victor Hugo und Joris-Karl Huysmans und bedeutende Kunsthistoriker wie Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc und Émile Mâle stilisierten die Kathedrale zu einem Ausdruck originärer unnachahmlicher französischer Gotik. Dabei trafen sich katholische und republikanische Deutungen in dieser Nationalisierung. Kurz vor Ausbruch des Krieges hatte sich die seit 1905 strikt laizistische Dritte Republik zur Instandhaltung der religiösen Baudenkmäler bereit erklärt, was eine erbitterte Debatte befrieden konnte. Daher waren Teile der Kathedrale 1914 eingerüstet, was das Zerstörungswerk tragischerweise gerade begünstigte. Erst vor dem Hintergrund der starken nationalen Aufwertung der Gotik und der Kathedrale in Reims vor dem Weltkrieg erklärt sich die enorme Empörung, welche der Beschuss hervorrief.
Nach dem Krieg gab es zunächst Bestrebungen, die Ruine der Kathedrale als Denkmal der Gefallenen und Mahnmal zur Stigmatisierung des Feindes zu erhalten. Ein regelrechter Ruinentourismus setzte ein. Von Präsident Woodrow Wilson, der während der Pariser Friedensverhandlungen die Kathedrale besuchte, bis Albert Einstein 1922, der sich vom Kulturkrieg ferngehalten hatte, machten Schlachtfeldtouristen der Kathedrale ihre Aufwartung. Erst 1938 konnte die mit Spenden vor allem von John D. Rockefeller, Jr. restaurierte Kathedrale wieder eingeweiht werden. Da war der neuerliche Krieg nicht mehr weit. Diesmal besetzte die deutsche Wehrmacht rasch und anhaltend Reims und verschonte die Kathedrale. Nicht zufällig musste sie hier aber am 7. Mai 1945 ihre bedingungslose Kapitulation erklären.
1962 inszenierte Präsident Charles de Gaulle dann die Versöhnung mit dem "Erbfeind" in einer gemeinsam mit Bundeskanzler Konrad Adenauer besuchten Messe in Reims. Der lieu de mémoire steht nun für die deutsch-französische Aussöhnung und Freundschaft, was durch zahlreiche weitere gemeinsame Besuche von Politikern beider Länder manifestiert wurde. 2015 wurden die letzten Relikte der Zerstörung durch eine Schenkung von drei abstrakt gestalteten Fenstern des deutschen Künstlers Imi Knoebel beseitigt.
Das zeitgleich auch in englischer Sprache erschienene Werk [4] ist, wie man es von Kunsthistorikern gewohnt ist, exzellent bebildert und in einer schönen Sprache verfasst. Als Moral der Geschichte fordert der Autor nicht nur ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, sondern auch den Respekt vor der kulturellen Identität der Europa tragenden Länder.
Anmerkungen:
[1] Angestoßen wurde die Debatte durch meine kritische Rezension des Buches von John Horne / Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit. Aus dem Englischen von Udo Rennert, Hamburg 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/07/6108.html (7.1.2021).
Darauf beziehen sich unter anderem Gunter Spraul: Der Franktireurkrieg 1914. Untersuchungen zum Verfall einer Wissenschaft und zum Umgang mit nationalen Mythen, Berlin 2016, und Ulrich Keller: Schuldfragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914. Mit einem Vorwort von Gerd Krumeich, Paderborn 2017. Auf die scharfe Kritik an ihrem Buch haben Horne und Kramer mit einer erweiterten Neuauflage ihres Buches reagiert (Hamburg 2018, dort I-XII: "Zur Rezeption des Buches seit 2001"). Spraul hat seinerseits darauf reagiert, vgl. Gunter Spraul: Ein Standardwerk - oder vielleicht doch nicht? Eine Entgegnung auf die Kritik von John Horne und Alan Kramer im Vorwort ihrer Neuausgabe von 2018, in: Portal Militärgeschichte 14. März 2019, http://portal-militaergeschichte.de/Straul_Standardwerk (7.1.2020).
Demnächst erscheint die Freiburger Dissertation von Larissa Wegner: Deutsche Kriegsbesetzung in Nordfrankreich 1914-1918.
[2] Hier zitiert nach: Jürgen von Ungern-Sternberg / Wolfgang von Ungern-Sternberg (Hgg.): Der Aufruf "An die Kulturwelt!". Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation, Stuttgart 1996, 55.
[3] Der Aufruf der 93 "An die Kulturwelt!" (1914), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28308 (7.1.2021).
[4] Thomas W. Gaehtgens: Reims on Fire. War and Reconciliation between France and Germany. Translated by David Dollenmayer, Los Angeles 2018.
Peter Hoeres