Hans-Werner Retterath (Hg.): Germanisierung im besetzten Ostoberschlesien während des Zweiten Weltkriegs (= Schriftenreihe des Instituts für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa; Bd. 20), Münster: Waxmann 2018, 307 S., ISBN 978-3-8309-3828-6, EUR 34,90
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Der vorliegende Sammelband umfasst zehn Beiträge von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen zur NS-Politik in Ostoberschlesien, einer in der neueren deutschen Forschung nur selten beachteten Region Polens. Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurden dem am 8. Oktober gebildeten Regierungsbezirk Kattowitz mehrere Randgebiete im Süden, Südwesten und Osten hinzugefügt: Dazu zählten das an das Protektorat Böhmen und Mähren sowie an die Slowakei grenzende Olsa-Gebiet, das östlich daran anschließende Teschener Schlesien, das Polen 1920 zugesprochen worden war, mit den Städten Teschen (Cieszyn) und Bielitz (Bielsko) sowie Teile der Wojewodschaft Krakau mit Kreisen, die bis 1918 zum österreichischen Teilungsgebiet gehört hatten, darunter unter anderem die Städte Saybusch (Żywiec), Sucha Beskidzka, Auschwitz (Oświęcim), Chrzanów sowie im Osten Gebiete der Wojewodschaft Kielce mit dem Kreis Olkusch (Olkusz).
Im ersten Beitrag geht Wolfgang Kessler der Frage nach, wie die deutsche Besatzung in Ostoberschlesien, in dem eine ethnisch sehr heterogene Bevölkerung (Polen, "Schlonsaken", Deutsche, Juden und Tschechen) lebte, in der NS-Zeit sowie in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 einschätzt wurde. Er untersucht dies am Beispiel von zeitgenössischen Darstellungen und Erinnerungen von aus diesem Gebiet Vertriebenen sowie von Publikationen von Schlesienforschern nach 1945. Zu Recht hebt Kessler hervor, dass nur das in diesem Gebiet liegende Konzentrationslager Auschwitz in der deutschen Erinnerung einen bleibenden Platz erhalten hat. Nur wenigen Deutschen dürfte darüber hinaus bekannt sein, dass ein Teil dieser Region, nämlich das südöstlich an die Slowakei und an das Generalgouvernement grenzende Gebiet um Saybusch, zu einem Aussiedlungsgebiet der polnischen Bevölkerung und zu einem Ansiedlungsgebiet der Galizien- und Bukowinadeutschen wurde.
In das Thema der Umsiedlung der Volksdeutschen, die im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 besiegelt und in dem am 28. September 1939 unterzeichneten deutsch-sowjetischen Vertrag ausgearbeitet wurde, führt Jan-Michael Dunst ein. Der durch zahlreiche Studien ausgewiesene beste Kenner der Germanisierung der Region Kattowitz und Saybusch, Mirosław Sikora, der sich in seinen Studien eingehend der "Aktion Saybusch" gewidmet hat, bei der etwa 20.000 Polen vertrieben wurden, um die Galizien- und Bukowinadeutschen in den zwangsweise geräumten Häusern und Bauernhöfen unterzubringen zu können, untersucht in seinem auf Beständen des Staatsarchivs und des Instituts für Nationales Gedenken in Kattowitz basierenden Beitrag die Einschätzungen des Sicherheitsdienstes in Kattowitz, der im Berichtszeitraum 1939-1944 Informationen über die Stimmungen unter den Volksdeutschen und Polen sammelte und immer wieder Kritik an dem vermeintlich zu langsam voranschreitenden Germanisierungsprozess übte.
Mit den unterschiedlichen Ansätzen der SS und der Gauleiter zur In- und Exklusion der deutschen und nichtdeutschen Bevölkerung im Landkreis Saybusch setzt sich Steffen A. Wasko in seinem Beitrag über die NS-Biopolitik auseinander. Er geht dabei auch auf die komplizierte Lage des als wirtschaftlich unbedeutenden und dadurch ärmeren geltenden Kreises ein, der durch eine Polizeigrenze von dem industrialisierten Teil des Regierungsbezirks Kattowitz, in dem die deutsche Bevölkerung deutlich zahlreicher war, abgegrenzt wurde. Die in dem als "Oststreifen" bezeichneten Teil lebende nichtdeutsche Bevölkerung war Wasko zufolge aufgrund dieser Gebietsteilung doppelt von der Exklusionspolitik des NS-Regimes betroffen. Mit dem Inhalt der propagandistischen Beiträge des 1941 für die in den Kreis Saybusch umgesiedelten Galizien- und Bukowinadeutschen herausgegebenen "Heimatkalender des Beskidenkreises Saybusch" befasst sich Jan Iluk. Er untersucht in seinem Beitrag, mit welchen propagandistischen Mitteln ihre Neuansiedlung in diesem Gebiet begründet und wie die Umsiedler mit ihrer von den NS-Behörden zugewiesenen Rolle als Kulturträger in den Beiträgen des Heimatkalenders instrumentalisiert wurden. Einem besonderen Aspekt der von den NS-Machthabern propagierten neuen Heimatverbundenheit, den Erntedankfesten in Saybusch in den Jahren 1941 bis 1943, widmet sich Hans-Werner Retterath. Die den deutschen Umsiedlern aus ihrer früheren Heimat Ostgalizien oder Bukowina bekannten dörflichen Erntedankfeste, die fest im Kirchenjahr verankert waren, hatten mit den von den NS-Behörden organisierten Erntedankfesten in der Stadt Saybusch nur wenig gemein. Retterath kann zeigen, dass sich hier die Parteihierarchie der Stadt und des Kreises durch entsprechende Aufmärsche verschiedenster NS-Formationen in Szene setzte und so ihre Macht und die deutsche Vereinnahmung des Raumes demonstrierten. Die bäuerlichen Umsiedler scheinen dagegen in den Hintergrund gedrängt worden zu sein und eher die Rolle von Statisten zugewiesen bekommen haben.
Der Behandlung der polnischen Bevölkerung in Ostoberschlesien unter deutscher Besatzung widmen sich in ihren Beiträgen Łukasz Iluk, der die Auswirkungen der so genannten "Polenstrafrechtsverordnung" untersucht, sowie Artur Caputa, der sich mit Fragen des polnischen Widerstands und der polnischen Untergrundpresse in dieser Region befasst. Mit den Auswirkungen der Zwangsaussiedlung aus der Region Saybusch befasst sich Małgorzata Goc, die sich in ihrem Beitrag auf eigene sowie die Forschungen von Elżbieta Dworzak stützen kann, die seit den 1990er Jahren auf der Grundlage der Bestände und Sammlungen des Museums des Oppelner Schlesiens in Oppeln (Opole) über die in dieser Region nach 1945 zugewanderten polnischen Neuansiedler durchgeführt werden. Ihre Untersuchungen haben ergeben, dass die aus dem Landkreis Saybusch stammenden knapp 1.800 polnischen Familien, die nach Kriegsende nicht mehr in ihre größtenteils zerstörten Häuser und Bauernhöfe zurückkehren konnten, die größte aus einem einzelnen Landkreis stammende Gruppe bildeten, die in den von Deutschen geräumten Häusern und Bauernhöfen im Oppelner Schlesien nach der Parzellierung und Aufteilung der Grundstücke eine neue Bleibe fanden. Sie teilten die Erfahrungen der Neuansiedlung mit Tausenden mehrheitlich aus der Wojewodschaft Tarnopol stammenden Familien, die aus den sowjetisch besetzten Gebieten Ostpolens in die Volksrepublik Polen umgesiedelt wurden. Der Band schließt mit Reflexionen von Gaëlle Fisher über den sich im Verlaufe der Jahrzehnte verändernden Diskurs der Erinnerungen an die Umsiedlung der Bukowinadeutschen.
Abschließend ist festzuhalten, dass die Beiträge im vorliegenden Band wichtige Themen aus der Zeit der deutschen Besatzung Polens aufgreifen, die auf Desiderata in der Forschung hinweisen und zu weiteren Studien über die Region Ostoberschlesien anregen. Dazu zählen insbesondere Studien zu Einschätzungen der nicht unter der deutschen Besatzung vertriebenen, in der ehemals galizischen Region um Saybusch lebenden polnischen Bevölkerung über die von den NS-Behörden zwischen 1940 und 1941 forcierte Ansiedlung der Deutschen aus Ostgalizien, die mit diesen bis 1918 schließlich gemeinsam im Kronland Galizien und bis September 1939 gemeinsam in der Zweiten Polnischen Republik gelebt hatten. Es wäre interessant zu untersuchen, ob vor diesem Hintergrund die umgesiedelten Galiziendeutschen trotz der NS-Indoktrination und der Besatzungspolitik, die Polenfreundschaft unter Strafe stellte, der polnischen Bevölkerung Empathie zeigen konnten und wollten.
Isabel Röskau-Rydel