Giovanni Orsina / Andrea Ungari (eds.): The "Jewish Question" in the Territories Occupied by Italians 1939-1943 (= Viella Historical Research; 16), Roma: Viella 2019, 345 S., ISBN 978-88-331-3316-4, EUR 58,00
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Auf dieses Buch hat man lange gewartet - auf einen Überblick über die "Judenpolitik" des faschistischen Italien in den Territorien, die italienische Truppen während des Zweiten Weltkriegs erobert hatten oder besetzt hielten. Es hat lange gedauert, bis sich - nicht nur die italienische - Geschichtswissenschaft mit der Frage auseinandergesetzt hat, wie sich die politische Führung des faschistischen Königreichs, die Besatzungsbehörden und die Streitkräfte des wichtigsten europäischen Verbündeten von Hitlers Deutschland zu einer zentralen Frage gestellt haben: Wie umgehen mit jüdischen Menschen im von Mussolini lautstark reklamierten "spazio vitale", die 1938 in Italien durch rigide Rassegesetze geächtet und seit dem deutschen Überfall auf Polen zum Ziel eines immer weiter ausgreifenden Mordprogramms wurden, für das die deutschen Waffenbrüder verantwortlich zeichneten? Die faschistische Kriegsallianz basierte ursprünglich auf der strategischen Konzeption paralleler Waffengänge, also auf der Idee zwar gemeinsam Krieg zu führen, dabei aber Operationsgebiete und Einfluss-Sphären weitestgehend zu trennen. Diese eigentümliche Art der Koalitionskriegführung scheiterte jedoch 1940/41 in den Bergen des albanisch-griechischen Grenzgebiets und in den Wüsten Nordafrikas, wo die italienischen Truppen so sehr in Bedrängnis kamen, dass ohne die Unterstützung der Wehrmacht nichts mehr zu gewinnen war. Damit gab es aber keine deutschen oder italienischen Kriegsschauplätze mehr, und in diesem Krieg der "Achse" erwies es sich immer wieder als konfliktreiche Gretchenfrage, wie die Verbündeten mit den Jüdinnen und Juden in den eroberten und besetzten Territorien umgingen. Die deutsche Seite entging dem alles verschluckenden Schatten von Auschwitz nicht, die italienische dagegen konnte sich lange Zeit in eben diesem Schatten verstecken.
Der hier rezensierte Sammelband ist aus dem Projekt "Italy and the Deportation of Jews in the Occupied Territories during the Second World War 1939-1945" hervorgegangen, das zwischen 2015 und 2017 durchgeführt worden ist - gefördert durch das Europe for Citizens Programme der Europäischen Union. In diesem Projekt kooperierten staatliche und nichtstaatliche Einrichtungen aus Albanien, Serbien und vor allem aus Italien, die neben Tagungen und Workshops auch die in mehreren italienischen Universitäten gezeigte Ausstellung "Jews and Fascism during the Parallel War" konzipiert und organisiert haben. Einer solchen Tagung, die im Mai 2017 in Rom stattgefunden hat, liegt auch der hier besprochene Sammelband zugrunde. Die Herausgeber Giovanni Orsina und Andrea Ungari, die beide an der LUISS-Universität Guido Carli lehren, sind beide bislang nicht mit einschlägigen Veröffentlichungen zur Geschichte des Faschismus, des Zweiten Weltkriegs oder der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden hervorgetreten, auch wenn Ungari einen Forschungsschwerpunkt auf dem Feld der italienischen Militärgeschichte vorweisen kann.
Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass die Einleitung - man muss es so sagen - mit zweieinhalb Seiten dürftig ausfällt. Die Herausgeber machen sich nicht die Mühe, Rechenschaft über die Anlage des Bandes abzulegen, und über die einzelnen Beiträge erfährt man ebenso wenig wie über ihre Autorinnen und Autoren. Schwerpunktsetzungen werden nicht begründet, Leerstellen werden nicht benannt, obwohl sie offensichtlich sind: So fehlen Kroatien, Slowenien, das griechische Festland oder Tunesien, und auch der Elefant im Raum ist keinen Aufsatz wert: der deutsche Achsenpartner als Katalysator der italienischen "Judenpolitik". Nicht nur wegen ihrer lapidaren Kürze hinterlässt die Einleitung einen zwiespältigen Eindruck. Die Herausgeber nehmen zwar die rassistisch-antisemitische Stoßrichtung von Mussolinis Regime ernst, aber man merkt ihnen das Unbehagen an, dass Italien seit den 1990er Jahren - anders als von Renzo De Felice behauptet - in den Schlagschatten des Holocaust geraten ist. Ihre Forderung nach Differenzierung und ihre Warnung vor vorschnell gleichsetzenden Vergleichen klingt daher etwas hohl, wenn sie zugleich die Abwehr angeblich überzogener Interpretationen anmahnen - von Interpretationen, die das faschistische Italien allzu sehr in die Nähe des nationalsozialistischen Deutschland und die königlich-faschistischen Streitkräfte allzu sehr in die Nähe von Wehrmacht und SS rücken.
Der hier besprochene Sammelband enthält 20 Aufsätze, die sich in vier Kapitel gliedern. Das erste umfasst fünf Aufsätze zum "Italian Approach to the 'Jewish Problem'", wobei die Beiträge von Giuseppe Parlato und Filippo Vignato hervorzuheben sind. Parlato nimmt Renzo De Felices Interpretation von Mussolinis "Judenpolitik" in den Blick, deren apologetische Grundtendenz in der italienischen Geschichtswissenschaft bis heute eine unübersehbare Anziehungskraft ausübt. Vignato dagegen stellt die Bestände des Archivs des italienischen Heeresgeneralstabs vor, die für die Thematik von zentraler Bedeutung, aber nicht eben einfach zu recherchieren und auszuwerten sind. Das zweite Kapitel, das sich insbesondere mit Frankreich, aber auch mit der Sowjetunion beschäftigt, ist mit der Überschrift "European Occupations" überschrieben. Bemerkenswert ist hier der Aufsatz von Luca Fenoglio, der sich mit der "Judenpolitik" des faschistischen Regimes in Südfrankreich 1942/43 beschäftigt, sorgfältig teils konvergierende, teils divergierende Zuständigkeiten, Intentionen und Motivlagen der verschiedenen Akteure des italienischen Besatzungs- und Sicherheitsapparats auseinanderlegt und dadurch Licht in das Dunkel tatsächlicher oder scheinbarer Widersprüche bringt. Maria Teresa Giusti fasst ihre Forschungen zum Einsatz italienischer Truppen an der Ostfront zusammen und konzentriert sich dabei vor allem auf die Unterdrückung von Widerstandsaktionen sowie auf die Bekämpfung der Partisanenbewegung hinter der Front. Das eigentliche Thema des Bandes - die faschistische "Judenpolitik" - gerät dabei leider aus dem Blick, wie man überhaupt sagen muss, dass Kenner der Materie wenig Neues erfahren, aber von der widersprüchlichen Argumentation überrascht sein werden. Anders verhält es sich mit Natalia Terekhovas Aufsatz unter der Überschrift "Italian Policies Regarding the Jewish Population during the Military Occupation of Soviet Territories". Die Autorin diskutiert nicht nur die schwer zugängliche Forschungsliteratur in russischer Sprache, sondern stellt auch einige Quellen sowjetischer Provenienz über das Verhalten der italienischen Truppen und die als verbrecherisch gebrandmarkte Besatzungspraxis der Kontingente des königlich-faschistischen Heeres vor.
Man fragt sich freilich, ob der Balkan - dem das vierte Kapitel gewidmet ist - nicht zu Europa gehört. Drei Aufsätze beschäftigen sich verdienstvollerweise mit Albanien, einem Land das nicht oft in den Fokus der Forschung gerät. Ähnlich verhält es sich mit Libyen, seit 1911/12 italienische Kolonie, und daher ist es nur zu begrüßen, wenn Kapitel drei - "Mediterranean Occupations" - einen Schwerpunkt auf Nordafrika legt; schließlich ist heute noch die Meinung weit verbreitet, hier habe man es - nach Generalfeldmarschall Erwin Rommel - mit einem ideologiefreien "Krieg ohne Haß" zu tun. Luisa Natale gibt einen Überblick über die Struktur der jüdischen Bevölkerungsgruppe in der italienischen Kolonie, wenn auch mit einem Schwerpunkt auf die 1930er Jahre, und Anna Pizzuti zeichnet die Biografie Giulia Cohens zwischen Bengasi, Italien und dem KZ Bergen-Belsen nach, wobei sie das Spannungsfeld zwischen Zeitzeugenschaft und Historiografie auslotet.
Alles in allem ist schwer zu entscheiden, ob das Glas halb leer oder halb voll ist. Dass der Band in englischer Sprache vorliegt, erleichtert den Zugang zu einem ansonsten nur schwer zugänglichen Segment der Forschung zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und zur Geschichte der Verfolgung der europäischen Juden. Die Qualität der einzelnen Beiträge ist freilich unterschiedlich, die Leerstellen sind zahlreich, und der Versuch einer bilanzierenden Perspektivierung fehlt weitestgehend. Die Herausgeber haben es sich einigermaßen leichtgemacht, obwohl das Thema weder ausgeforscht noch ausdiskutiert ist.
Thomas Schlemmer