Ulrike Pilarczyk / Ofer Ashkenazi / Arne Homann (Hgg.): Hachschara und Jugend-Alija. Wege jüdischer Jugend nach Palästina 1918-1941 (= Steinhorster Beiträge zur Geschichte von Schule, Kindheit und Jugend; Bd. 1), Gifhorn: Gemeinnützige Bildungs- und Kultur GmbH des Landkreises Gifhorn 2020, 228 S., ISBN 978-3-929632-99-6, EUR 9,95
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Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war eine Epoche der Reformbewegungen und des Aufbruchs. Die Hoffnung auf weitreichende gesellschaftliche und soziale Veränderungen fand in der jungen Generation breiten Widerhall. Nicht zu übersehen waren jedoch auch tiefgreifende Ängste angesichts sich anbahnender Umbruchsprozesse. Sie fanden ihren Niederschlag in einem "Welt-Erleben", in dem sich Judenfeindlichkeit mit anderen spezifischen sozialen und politischen Ansichten, nicht zuletzt mit rassistischen Einstellungen verband. [1] Für junge Jüdinnen und Juden, die sich als Deutsche fühlten, ergaben sich in mehrfacher Hinsicht Verunsicherungen. Eine besondere Herausforderung bestand für sie darin, die Balance zwischen ihrer deutschen und jüdischen Identität zu finden. Im Zuge des Aufschwungs nationalen Denkens und vor dem Hintergrund sich zugleich entfaltender antijüdischer Ressentiments begann damals die Vision einer jüdischen Heimstatt Gestalt anzunehmen, die mit dem Schlagwort "Zionismus" umrissen werden kann. Sie war mit facettenreichen Vorstellungen der Tauglichmachung für die "Alija", d.h. der Einwanderung nach Palästina und der Errichtung von Kibbuzim verbunden. Der Vorbereitung auf ein Leben in diesen sozialistisch und zionistisch inspirierten Gemeinschaftssiedlungen dienten diverse "Hachschara"-Stätten: Die Gemeinschaft stiftenden Formen des zeitweisen Zusammenlebens auf landwirtschaftlichen Gütern, in Gartenbauschulen und anderen Ausbildungsstätten beinhalteten vielfach Elemente eines Miteinanders, die in jugendbewegten Gruppierungen verbreitet waren. Nach dem Ersten Weltkrieg fand diese Zukunftsperspektive verstärkt bei jungen Jüdinnen und Juden Resonanz. Nach 1933 gewann sie als möglicher Rettungsweg vor der NS-Verfolgung noch einmal mehr an Bedeutung. [2] So viel vorab zu den Titelstichworten des hier vorzustellenden Buches.
Eine umfassende Erforschung jüdischer Erziehungsvorstellungen und zionistischer Erziehungspraktiken sowie deren Wandlungen zwischen den Weltkriegen in Deutschland und Palästina ist bislang ein Desiderat. Dieser Lücke nehmen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts seit Juli 2018 unter der Leitung von Ulrike Pilarczyk (Institut für Erziehungswissenschaft der Technischen Universität Braunschweig) in Kooperation mit Ofer Ashkenazi (Direktor des Koebner-Minerva-Center for German History an der Hebräischen Universität in Jerusalem) an.
Der vorliegende Sammelband dokumentiert ein Zwischenergebnis des Projekts "Nationaljüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehung in Deutschland und Palästina zwischen den Weltkriegen." Er umfasst fünf Beiträge von Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, ergänzt um drei weitere sowie ein für das Gesamtthema ausgesprochen hilfreiches Glossar. Das Hauptaugenmerk der Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter gilt erzieherischen Konzepten und Vernetzungen von Akteuren aus mehreren Altersgruppen. Es gilt ebenso der Erziehungspraxis in Palästina. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Recherchearbeit und Quellendokumentation mit dem Ziel einer möglichst vollständigen Übersicht über die Vielfalt historischer "Hachschara"-Stätten.
Knut Bergbauer (23-53) wendet sich zunächst den Anfängen von "Alija" und "Hachschara" zu. In einem zweiten Beitrag wendet sich Marco Kissling religiös motivierten Aspekten zu. Er betont die Bedeutung aufwendiger Recherchen (55-82); persönliche Dokumente, Briefe etwa auszuwerten, sei eine noch ausstehende, besonders lohnende Aufgabe. Individuelle Lebenswege und regionale Aspekte stehen im Zentrum der Aufsätze von Bernhard Gelderblom über die Haschara-Stätte Cherut in Dörfern rund um Hameln (83-106) und Knut Bergbauer zu Schlesien (107-134). Das aus sozialistischen Milieuzusammenhängen der Zwischenkriegszeit bekannte Stichwort "Kinderrepublik" wird von Beate Lehmann aufgegriffen, die sich dem Kinder- und Jugenddorf Ben Schemen (165-194) widmet, einer 1927 in Palästina ins Leben gerufenen pädagogischen Einrichtung.
Miriam Szamet richtet den Blick auf eine jüngere Altersgruppe von Jüdinnen und Juden, die in Palästina einen Neuanfang wagten (195-217). Harald Lordick regt an, den Blick perspektivisch über den Beginn des Zweiten Weltkriegs hinaus zu erweitern (135-164). Der Sammelband schließt mit dem Bericht Arne Hofmanns über eine projekt-begleitende Ausstellung im Schulmuseum Steinhorst (219-225). Der professionelle Blick auf visuelle Quellen entspricht zweifellos in besonderer Weise den fachlichen Expertisen von Ulrike Pilarczyk und Ofer Ashkenazi.
Leider fehlt ein Namensverzeichnis, das besonders für die projektrelevanten Netzwerkanalysen unerlässlich erscheint. Und kritisch sei außerdem Folgendes angemerkt: Das Spannungsverhältnis zwischen einem jugendbewegt mitinspirierten, auf adoleszente Selbstbestimmung gegründeten Erziehungsideal sowie einer rigorosen Arbeits-, Unterordnungs- und Gemeinschaftsdisziplin einerseits und der seelischen Verfassung psychisch in hohem Maße belasteter Minderjähriger dürfte für die Geschichte der "Jugend-Alija" nicht zu unterschätzen sein. Mehrheitlich mussten die Kinder und Heranwachsenden in einer fremden Umgebung ohne Angehörige zurechtkommen, nachdem bereits Zeiten existenzieller Ängste hinter ihnen lagen. Ideale wie Abhärtung und Selbstdisziplin in der Gemeinschaft stellten zweifellos eine Brücke zum Leben in den Kibbuzim in Palästina dar. Sie waren wohl aber auch durch eine spezifisch deutsche Erziehungstradition mitbedingt. Dieser Aspekt wird nur am Rande gestreift.
Zusammenfassend: Die Lektüre des Bandes sei empfohlen und dem Fortgang des Projekts Erfolg gewünscht. Eine Konferenz "Jüdische Jugend im Übergang" (März 2021) [3] lässt auf vertiefende und erweiternde Anregungen hoffen, die vielleicht auch über die Fragehorizonte des Projekts hinaus Aufmerksamkeit verdienen könnten, zum Beispiel mit Blick auf eine jüdische "Generation im Übergang" [4], für die Entwurzelung und Beheimatungsversuche Lebensthemen darstellten.
Anmerkungen:
[1] Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code, in: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Shulamit Volkov, München 1990, 25.
[2] Barbara Stambolis: "Wir dürfen über dem Acker die Sterne nicht verlieren." Zur Lebens- und Selbstsicht jüdisch jugendbewegter Emigranten und Remigranten, in: Flucht und Rückkehr. Deutsch-jüdische Lebenswege nach 1933, hg. von Barbara Stambolis, Gießen 2020, 103-120; dies.: Jüdische Jugendbewegungen, in: Handbuch der Religionen (HdR), im Druck; Doron Kiesel / Greta Zelener (Hgg.): Die jüdische Jugendbewegung. Eine Geschichte von Aufbruch und Erneuerung, in Vorbereitung.
[3] https://www.juedischejugendkultur.de/programm.html, zuletzt aufgerufen am 9.1.2021.
[4] Katharina Hoba: Generation im Übergang. Beheimatungsprozesse deutscher Juden in Israel, Köln / Weimar / Wien 2017.
Barbara Stambolis