Benjamin Sommer: Mitteldeutsche Flügelretabel vom Reglermeister, von Linhart Koenbergk und ihren Zeitgenossen. Entstehung, Vorbilder, Botschaften (= Neue Forschungen zur deutschen Kunst; XII), Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft 2018, 292 S., 21 Farb-, 184 s/w-Abb., ISBN 978-3-87157-248-7, EUR 79,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Falko Bornschein / Karl Heinemeyer / Maria Stürzebecher (Hgg.): Der Wolfram-Leuchter im Erfurter Dom. Ein romanisches Kunstwerk und sein Umfeld, Neustadt a.d. Aisch: Verlagsdruckerei Ph. Schmidt 2019
Dominik Jelschewski: Skulptur, Architektur und Bautechnik des Naumburger Westchors, Regensburg: Friedrich Pustet 2015
Benediktinerabtei Ottobeuren (Hg.): Ottobeuren. Barocke Bildwelt des Klostergebäudes in Malerei und Plastik. Bearbeitet von Gabriele Dischinger, Cordula Böhm, Anna Bauer-Wild, Rupert Prusinovsky OSB. Photographische Aufnahmen von Kai-Uwe Nielsen, St. Ottilien: EOS Verlag 2014
Claudia Denk / John Ziesemer: Kunst und Memoria. Der Alte Südliche Friedhof in München, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2014
Ittai Weinryb: Die Hildesheimer Avantgarde. Kunst und Kolonialismus im Mittelalterlichen Deutschland, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2023
Als Angehöriger des Postfaktischen Zeitalters ist man angenehm überrascht, dass eine Dissertation über vier mitteldeutsche Flügelretabel des 15. Jahrhunderts mit einer Gegenstandssicherung beginnt. Die teils nicht geringe Veränderungsgeschichte der Retabel wird geklärt, um sich dem Original anzunähern, die ursprünglichen Standorte werden erschlossen und schließlich Überlegungen zu den möglichen Auftraggebern angestellt, die eine erste Kontextualisierung der Retabel leistet. Überhaupt gehört der erfrischend empirische Zugang, das schrittweise, reflektierte Schlussfolgern auf gesicherter Basis zu den besonderen Qualitäten dieser Arbeit.
Gilt für die süddeutsche Skulptur der Spätgotik, was die stilkritische Zuschreibung und Datierung betrifft, zu weiten Teilen: "Les jeux sont faits", so überrascht es beinahe, dass dies nicht für die mitteldeutsche Skulptur und Malerei dieser Zeit zutrifft. Die vier untersuchten Flügelretabel, sämtlich Hauptaltäre, gehören zu den Schlüsselwerken der mitteldeutschen Spätgotik, es sind das Retabel der Marienkirche in Stendal (1471), der Erfurter Reglerkirche (um 1473-75), der Paulinerkirche in Leipzig (um 1485-90) und der Erfurter Pauluskirche (1492).
War die Formanalyse mit dem Aufstieg der kontextualisierenden Kunstgeschichte seit den 1970er Jahren zunehmend démodé geworden, gelang in den 1980er und 1990er Jahren eine Revitalisierung des Formanalyse einerseits durch die Versuche der Semantisierung der Form, die vor allem mit den Forscherpersönlichkeiten Michael Baxandall und Robert Suckale verbunden sind [1], andererseits mit einer sozialgeschichtlich empirischen Perspektive auf die Werkstattpraxis. Hier waren es nicht zuletzt die beiden großen Ausstellungen "Meisterwerke massenhaft" [2] und "Gegen den Strom" [3], die einen neuen Zugang auch durch die Ergänzung der Formanalyse durch kunsttechnologische Untersuchungen erprobten.
Auf dieser Forschungsgrundlage arbeitet der Autor konsequenter Weise anstelle des traditionellen Meisterbegriffs mit dem Werkstattbegriff, der den arbeitsteiligen Werkprozess einer Maler- oder Bildschnitzerwerkstatt der Spätgotik realitätsnäher abbildet und jenseits des Werkstattstils Ansätze für eine formanalytische Ausdifferenzierung des Werks zwischen Meister und Gesellen bietet. Überzeugend wird herausgearbeitet, dass sämtliche vier Flügelretabel von derselben Bildschnitzerwerkstatt geschaffen wurden, die ihren Sitz in Erfurt hatte und die mit dem an einem seiner Werke angelehnten Notnamen des Reglermeisters bezeichnet wird. Das gilt jedoch nicht für die malerischen Arbeiten der Retabel, für die jeweils unterschiedliche Malerwerkstätten plausibel gemacht werden können, darunter die des Erfurter Malers Linhart Koenbergk, der das Retabel der Erfurter Pauluskirche von 1492 signiert und die Gesamtleitung für diesen Auftrag mit mehreren Einzelwerkstätten übernommen hatte.
Die Diskussion der Vorbilder für die Retabelgestalt und die einzelnen Darstellungen differenziert ebenfalls zwischen den Anteilen der Maler und Bildschnitzer und ihren unterschiedlichen Bezugshorizonten. Neben den Zentren der norddeutschen Hanse und dem regionalen Umfeld sind dies vor allem Franken und vermittelt die Niederlande. Mitunter wird der Rezeptionshorizont zu weit gespannt und nicht immer überzeugend über das vereinzelte Bildmotiv oder Bilddetail argumentiert. Hier hätte man sich eine breitere Diskussion der Bildthemen und -motive auf Grundlage der Bildtraditionen, aber auch der damaligen theologischen Literatur gewünscht, die, wie es die Grundlagenforschungen von Frederick P. Pickering [4] und James H. Marrow [5] gezeigt haben, den Transfer von Themen und Motiven jenseits der Bildvorlagen ermöglicht hat.
Zu den besonders ertragreichen Ergebnissen der Dissertation gehört die Kontextualisierung der Flügelretabel durch die Einbindung ihrer Bildprogramme in die liturgische Praxis und Frömmigkeitsgeschichte, die exemplarisch an den Retabeln der Pauluskirchen in Leipzig und Erfurt aufgezeigt wird. Dabei wird die Öffnung und Schließung der Retabel entsprechend der Abfolge des geistlichen Jahrs diskutiert. Es wird aufgezeigt, inwiefern die Auswahl der Bilder den Festtagen folgt. Dabei ist es besonders bemerkenswert, dass für die Erschließung der liturgischen Einbindung und der theologischen Inhalte der Retabel die damals zeitgenössischen Missale und ebensolche theologische Literatur verwendet wird. Versucht wird dabei, eine Differenzierung der theologischen Botschaften der beiden Altäre hinsichtlich ihres klösterlichen bzw. pfarrgemeindlichen Publikums herauszuarbeiten.
Man wird richtig darin liegen, anzunehmen, dass mit dieser Dissertation ein Grundlagenwerk für die Erforschung der mitteldeutschen spätgotischen Skulptur und Malerei vorgelegt wurde, das Forschungslücken schließen hilft, die mit der Teilung Deutschlands nach 1945 entstanden waren. Es ist dem Buch zu wünschen, dass es einen breiten Leserkreis finden und es Ausgangspunkt und Anregung zu weiteren Forschungen und Fragestellungen bilden wird. Auch dank seiner opulenten Bebilderung bereitet es im Übrigen Freude, es zu lesen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu allg. Philippe Plagnieux / Anne-Orange Poilpré / Marc C. Schurr: "Un exilé intérieur". Entretien sur les travaux de Willibald Sauerländer avec Thomas Kirchner, in: Regards croisés 10 (2020), 184ff. und exemplarisch Michael Baxandall: Die Kunst der Bildschnitzer. Tilman Riemenschneider, Veit Stoß und ihre Zeitgenossen, München 1984 und Robert Suckale: Die Hofkunst Kaiser Ludwigs des Bayern, München 1993.
[2] Meisterwerke massenhaft. Die Bildhauerwerkstatt des Nikolaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Ausst.kat. Württembergisches Landesmuseum Stuttgart, Stuttgart 1993.
[3] Gegen den Strom. Meisterwerke niederrheinischer Skulptur in Zeiten der Reformation, 1500-1550, Ausst.kat. Suermondt-Ludwig-Museum Aachen, hg. v. Museen der Stadt Aachen, Berlin 1996.
[4] Vgl. Frederick P. Pickering: Literatur und darstellende Kunst im Mittelalter (= Grundlagen der Germanistik; Bd. 4), Berlin 1966.
[5] Vgl. James H. Marrow: Passion iconography in Northern European art of the late Middle Ages and early Renaissance: a study of the transformation of sacred metaphor into descriptive narrative, Kortrijk 1979.
Detlef Knipping