Rezension über:

Veronika Settele: Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland 1945-1990 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 239), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 394 S., ISBN 978-3-525-31122-6, EUR 65,00
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Rezension von:
Michael K. Schulz
Historisches Institut, Universität Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Michael K. Schulz: Rezension von: Veronika Settele: Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland 1945-1990 , Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 4 [15.04.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/04/34999.html


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Veronika Settele: Revolution im Stall

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Das Ziel der rezensierten Studie, die 2019 als Dissertation an der Freien Universität Berlin angenommen wurde, ist die Beschreibung des Wandels im Mensch-Tier-Verhältnis am Beispiel von landwirtschaftlich genutzten Tieren in BRD und DDR bis zur Wiedervereinigung 1990. Das moderne Mensch-Tier-Verhältnis ist ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die unter den Oberbegriffen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, darunter im Speziellen Konsum, Tierschutz und Ökologie untersucht werden. Die Verfasserin sieht sich dabei nicht einer konkreten Fachdisziplin zugehörig. Vielmehr solle ihre Studie "den Knotenpunkt eines ganzen Bündels von Geschichten [markieren]: der traditionsreichen Agrargeschichte und der neuen Tiergeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der jüngst so produktiven Wissens- und einer beginnenden Moralgeschichte." (20) Besonders gewinnbringend ist dieser Ansatz für das aufkommende Forschungsfeld der Human-Animal Studies. Denn der in dieser Studie eingesetzte "dezidiert historische [...], das heißt empirische [...] und rekonstruierende [...] Zugriff, löst ein in der Tiergeschichte formuliertes Desiderat nach Arbeiten jenseits der kulturellen Repräsentation der Tiere ein." (23) Die verwendeten Quellen umfassen die Akten der Landwirtschaftsministerien der BRD und DDR, archivalische Dokumentarfilme, Materialien der landwirtschaftlichen Forschungsinstitute, Zeitungen und Zeitschriften der Landwirtschaftsbranche sowie zeitgenössische Lehrbücher und agrarwissenschaftliche Fachpublikationen.

Die Monografie ist in drei Teile gegliedert, die sich jeweils mit einem der Hauptaspekte des Wandels in der landwirtschaftlichen Tierhaltung im 20. Jahrhundert befassen. Anhand der Rinder werden medizinisch-biologische Eingriffe in den Tierkörper analysiert, anhand der Hühner die neuartige Kostenkalkulation und Marktgebundenheit der Tierhaltung, anhand der Schweine die Technisierung der Ställe. Diese thematische Unterteilung wird flexibel umgesetzt. So erfährt man etwa auch über die wirtschaftlichen Aspekte der Rinderhaltung oder die Technisierung der Hühner- (Käfigbatterien) und der Kuhställe (Melkstände). Die strukturelle Flexibilität ist wegen gegenseitiger Beeinflussungen in der Züchtung aller drei Tierarten besonders vorteilhaft: die Vorrichtungen der Hühnerhaltung stellten beispielsweise eine Inspiration für die Technisierung der Schweineställe dar (240f.).

Die im Titel der Studie angesprochene Revolution umfasst zum einen die ökonomisch-technokratischen Dominanten Leistung und Rentabilität, zum anderen das neue Konsumverhalten und das daraus resultierende moderne Mensch-Tier-Verhältnis. Der Fleischverbrauch stieg im untersuchten Zeitraum von jährlich 20 (DDR) bzw. 37 kg (BRD) auf 100 kg in den beiden Ländern, der Eierverbrauch wurde verfünffacht im Osten und verdoppelt im Westen mit rund 300 Stück jährlich pro Kopf zur Zeit der Wiedervereinigung (18f.). Das Leistungsprinzip bei der Rinderzucht evolvierte seit dem späten 19. Jahrhundert, als die zu Genossenschaften zusammengeschlossenen Tierhalter die Milchproduktion ihrer Kühe regelmäßig überprüften und verglichen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die "Produktionskraft" zu einem entscheidenden Merkmal in der Haltung aller drei Tierarten, vor ästhetischen oder gesundheitlichen Parametern: "Das beste Tier war nicht länger das gesunde, robuste und langlebige, sondern jenes mit der gewinnträchtigsten Körperleistung." (141) Das Rentabilitätsprinzip sorgte vor allem in der Hühnerhaltung für eine "Revolution". Bis zur Nachkriegszeit war diese Beschäftigung eine "Frauensache" gewesen, wodurch Bäuerinnen ihr oft einziges eigenes Einkommen bezogen hatten. Aus einer Art Taschengeld-Geschäft wurde in den 1960-1970er-Jahren ein Unternehmen, wofür sich Investoren auch außerhalb der landwirtschaftlichen Branche begeisterten. Gleichzeitig änderten sich die Ernährungspraktiken und Empfindsamkeiten der Deutschen: Geflügelfleisch wurde nicht mehr lediglich als Suppeneinlage, sondern als wertvolles Fleisch wahrgenommen (159) und in der Öffentlichkeit regten sich kritische Stimmen zur intensiven Hühnerhaltung (208-220).

In dieser multiperspektivischen Beschreibung verliert die Verfasserin die Tiere selbst nicht aus dem Blick. Es gelingt ihr an einigen Stellen, die Agency der Kühe, Hennen und Schweine zu vermitteln; ein Unterfangen, das in der Tiergeschichte bisher fast ausschließlich in Bezug auf Heimtiere, vor allem Hunde und Katzen, erfolgreich wurde. Es wird gezeigt, dass sich die Tiere, genauso wie Menschen, an die "Revolution im Stall" anpassen mussten. Die Kühe hätten etwa fünf bis sechs Wochen nötig gehabt, um sich an die Melkmaschinen zu gewöhnen (92). Auf Unterfütterung, schlechte Behandlung oder Krankheiten reagierten sie mit Appetitlosigkeit, Milchverweigerung oder mit gescheiterten Besamungsversuchen. Die Hennen aßen eigene Eier, wenn in ihrem Futter Kalk mangelte (149), die gewalttätig behandelten und verängstigten Schweine lieferten Fleisch von schlechter Qualität (285, 288). Die "Reaktion im Stall" auf solch unerwünschtes Verhalten - manchmal als Bösartigkeit der Tiere wahrgenommen (69, 260) - war etwa "keine Ursachenbeseitigung durch Reduktion der Dichte, sondern die Unterdrückung der Symptome." (197) Es wurden also Spielzeuge in den Ställen eingeführt bzw. Ringelschwänze regelmäßig abgeschnitten, um Kannibalismus unter den Schweinen zu vereiteln (259-261). Die seit den 1970er-Jahren geführten Diskussionen über die Stressfaktoren fokussierten sich darauf, nicht die Ursachen zu beheben, sondern stressresistente Tiere zu schaffen (84, 287-289).

Zusammenfassend ist die rezensierte Monografie als ein musterhaftes Beispiel für eine Tiergeschichte zu begrüßen, die fern von üblichen epochenübergreifenden, historiosofisch geprägten Überblicksdarstellungen grundlegende Erkenntnisse zu einem präzise definierten Untersuchungsgegenstand liefert. Die Studie verdeutlicht die Relevanz dieses neuen Forschungsfeldes, indem sie zeigt, wie die Geschichte der Tierhaltung die wandelnden Gesellschaften und Kulturen reflektiert. So gefasste Tiergeschichte ist nicht allein ein Bestandteil der Kulturgeschichte, sondern eine wertvolle Ergänzung der sozial, wirtschaftlich und sogar politisch konzipierten Zugriffe in der Geschichtsschreibung.

Michael K. Schulz