Kurt Thomas Schmitz : Die IG Metall nach dem Boom. Herausforderungen und strategische Reaktionen, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2020, 253 S., ISBN 978-3-8012-0575-1, EUR 26,90
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Lange Zeit war es für die Erforschung der Arbeiterbewegung üblich, dass ihre Chronistinnen und Chronisten ihren eigenen Reihen entstammten oder ihr zumindest verbunden waren. Diese Tradition wurde in den letzten Jahren durch eine neue Generation von Forschenden aufgebrochen, die die Geschichte der Gewerkschaften mit frischen und vielfältigen Ansätzen wiederbelebt. Dabei rückt zunehmend das ausgehende 20. Jahrhundert in den Fokus, etwa in Knud Andresens Publikation zur Metall-Jugend nach "1968" [1]. Nun hat Kurt Thomas Schmitz erstmals eine Übersicht zur größten deutschen Einzelgewerkschaft in diesem Zeitraum vorgelegt: Eine zeithistorische Studie zur Entwicklung der "IG Metall nach dem Boom". Der Autor knüpft indes an die alten Traditionslinien der Gewerkschaftsforschung an. Denn Schmitz hat eine lange Karriere in der IG Metall zu verzeichnen: Der promovierte Politologe arbeitete von 1978 bis 2000 als Referent und Abteilungsleiter in ihrer Vorstandsverwaltung. Nun, 20 Jahre nach seinem Ausscheiden, blickt er auf die Organisation während seiner eigenen Wirkungszeit zurück. Die Frage, ob seine Zeitzeugenschaft "sowohl als teilnehmender Beobachter wie auch als aktiv Mitwirkender im Dienste der IG Metall [...] den Blick getrübt oder geschärft hat", überlässt er dabei dem "politisch und historisch interessierte[n] Leser nach der Lektüre" (22).
Schmitz zielt mit seiner Darstellung der Metallgewerkschaft zwischen 1975 und 2005 auf eine "politische Organisationsgeschichte", perspektivisch gedacht als "Vorgeschichte der Gegenwart" und vorgenommen aus einem bundesdeutschen Betrachtungswinkel (21). Er spürt signifikanten Veränderungen im Zuge des sozio-ökonomischen Strukturbruchs der 1970er Jahre und den einhergehenden Herausforderungen für gewerkschaftliches Handeln nach und beleuchtet, wie und wann die IG Metall darauf reagierte. Schmitz widmet sich hierbei den "zentralen Bereiche[n] von Struktur und Politik" der Institution: "Mitgliederentwicklung, Tarifpolitik, gewerkschaftliche Programmatik, die Zukunftsdebatten und die Organisationsreform" (20). Die Jahrzehnte nach dem Boom interpretiert er vor dem Hintergrund sich wandelnder Rahmenbedingungen als gewerkschaftliche "Übergangsphase, in der sich Umbrüche und Kontinuitäten mischen und neue Perspektiven gesucht werden" (19).
Wie der Politologe und ehemalige Gewerkschafter Wolfgang Schroeder in der vorangestellten Einordnung betont, geht es damit im Grunde auch um die Frage: "Was müssen also große soziale und politische Organisationen leisten, um sich erfolgreich an veränderte Umweltbedingungen anpassen zu können?" (9). Den konzeptionellen Ausgangspunkt der Beobachtung bildet mit dem "Strukturbruch" eine der meistdebattierten Thesen der jüngsten Zeitgeschichtsforschung. In der Einleitung lässt der Autor hierfür hauptsächlich ihre Konzeptionisten Lutz Raphael und Anselm Doering-Manteuffel [2] zu Wort kommen, wohingegen er selbst sich mit Blick auf wissenschaftliche Eckdaten seiner Arbeit bedeckt hält.
Kapitel 2 macht zunächst drei für die Gewerkschaften gravierende "Zäsuren" (23) aus: Den Wechsel der sozialliberalen zur liberalkonservativen Regierungskoalition 1982, den Skandal um die DGB-Wohnbaugesellschaft Neue Heimat und den folgenden Gewerkschaftsausstieg aus der Gemeinwirtschaft bis Anfang 1990 sowie die unvorhergesehene Verschärfung der Bedingungen durch die deutsche Wiedervereinigung in den 1990er Jahren. Als resultierende gewerkschaftliche "Herausforderungen" erscheinen in Schmitz' Buch immer wieder der Mitgliederschwund und die Finanzverluste der IG Metall sowie die Erosion des Flächentarifvertrags.
In den folgenden Kapiteln breitet der Autor ein kaleidoskopisches Panorama "strategischer Reaktionen" auf die Schwierigkeiten in den klassischen Handlungsfeldern der Organisation aus. Dabei greift er als Materialgrundlage für seine mit zeilenlangen Zitaten durchtränkte Schrift aus der anfangs aufgeführten Fülle an gewerkschaftlichen Quellen neben der Literatur vorrangig auf Geschäftsberichte und Protokolle der Gewerkschaftstage der IG Metall zurück.
Kapitel 3 und 4 zeichnen Anpassungsversuche der "gewerkschaftlichen Ziele und Mittel" (62) über programmatisch weitreichende Zukunftsdebatten und Reformprojekte sowie die Integration der Gewerkschaften Textil und Bekleidung 1998 und Holz und Kunststoff 2000 in die Metallgewerkschaft nach.
Die "Erosion" (72) der Mitgliederbasis, die die IG Metall bis zur Jahrhundertwende nicht dauerhaft abwenden konnte, illustriert Kapitel 5. Als "Randgruppen" des gewerkschaftlichen Interesses geraten hier wenigstens kurzzeitig auch marginalisierte Positionen wie die "besondere Probleme" bereitenden Frauen, Angestellten und Jugendlichen (73) in den Blick. Dennoch bleiben in dieser Publikation insgesamt die Akteurinnen und Akteure selbst bei intensiven Konflikten zumeist blass. Ebenso ist es bedauerlich, dass zur Illustration nicht mehr aus dem zweifelsfrei üppigen Anekdotenfundus des Metallers geschöpft wurde. Analytisch problematisch ist der Umstand, dass der Text die Beteiligungen und Positionierungen des Autors im Zeitgeschehen nicht konkret kennzeichnet. Es mag sicherlich auch an der unorthodoxen und fehlerhaften Fußnotenpraxis liegen, dass so beim Lesen die Trennlinie zwischen Zeitzeugenschaft und Wissenschaft nicht immer leicht nachzuvollziehen ist.
Kapitel 6 und 7 thematisieren die "Marksteine" der gewichtigen Tarifpolitik und "begrenzte Spielräume" der Betriebspolitik in der neuen "Konfliktphase" (105) des Strukturwandels. Mit dem Kampf um kürzere Arbeitszeiten in Form der 35-Stunden-Woche, dem holprigen Neubeginn durch die "Einbeziehung des Ostens" (105) und dem Präzedenzfall einer arbeitszeitlichen Öffnung des Flächentarifvertrags durch das Pforzheimer Abkommen veränderten sich die industriellen Beziehungen generell. Die Gewerkschaft vollzog auch deshalb einen bedeutsamen "Strategiewechsel" (125) mit der Verbetrieblichung der Tarifpolitik ab den 1980er sowie dem Einstieg in die Branchenarbeit in den 1990er Jahren. Dennoch attestiert ihr Schmitz letztlich eine "Niederlage" durch die "Reduzierung der Mitbestimmung" (140).
Die IG Metall als "Arbeitsplatz", ihre Beschäftigtenpolitik ebenso wie interne Führungskonflikte fokussiert Kapitel 8. Die "Dienstleistungsorganisation" rückte in ihren Debatten zur Handlungsfähigkeit in den 1990ern zum ersten Mal "selbst in den Mittelpunkt" (145) und wurde Gegenstand von Modernisierungs- und Straffungsmaßnahmen.
Als letztes Thema betrachtet Kapitel 9 die "Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik", die sich zur "Belastungsprobe" (177) für das Verhältnis zu den regierenden Parteien entwickelte. Mit dem Scheitern des gewerkschaftlich initiierten Bündnisses für Arbeit, der Agenda 2010 und der Arbeitsmarktreform durch die Hartz-Gesetze kehrten die Gewerkschaften demnach wieder zu ihren traditionellen Kernthemen wie der Tarifpolitik zurück. Gemeinsam ergeben die Puzzleteile der miteinander verflochtenen Handlungsfelder schließlich das Bild eines zögerlichen, verspäteten und schrittweisen Anpassungsprozesses an die Herausforderungen des "Strukturbruchs" aus zumeist "pfadabhängigen Entwicklungslinien" (14), rückführbar auch auf "innerorganisatorische Richtungskämpfe" (12), wie Schroeder zusammenfasst.
Schmitz schließt seine Betrachtung in Kapitel 10 mit einem Resümee zur "Gewerkschaftsforschung", primär rekurrierend auf Veröffentlichungen bis zur Jahrtausendwende von Hermann Weber, Klaus Schönhoven und Klaus Tenfelde oder der IG Metall selbst. Mit dieser Forschungslandschaft im Rücken hält er ein Plädoyer für die Rückkehr zur alten Art der Gewerkschaftsforschung der 1980er Jahre in Gestalt enger "wissenschaftliche[r] Kooperation" von "Gewerkschaftsforschern" und Gewerkschaften (193). Gepaart mit dem Ziel, "die Handlungsperspektiven gewerkschaftlicher Organisation und Politik auszuloten" (189), offenbart die Forderung einer solchen Nähe zum Untersuchungsgegenstand ein organisationsgeleitetes Wissenschaftsverständnis. Dies mag aus der Perspektive eines ehemaligen Funktionärs nachvollziehbar und nicht nur für den Quellenzugang fruchtbar sein, aber erscheint doch für eine innovative Erforschung nicht mehr vollumfänglich haltbar.
Der Wert einer Forschung, die sich nicht als Dienstleisterin der Organisation versteht und wie sie exemplarisch im Umfeld der German Labour History Association betrieben wird, [3] liegt auch darin, dass sie die Gewerkschaftsgeschichte für einen breiteren Personenkreis zugänglich macht und mit weiteren Erkenntnisinteressen verknüpft. Tücken der von Schmitz propagierten Geschichtspflege scheinen letztlich auch die Mängel seiner Arbeit offenzulegen. Ihre Verständlichkeit wird durch nur bedingt erfüllte wissenschaftliche Standards, einen unübersichtlichen und mäandernden Aufbau sowie sprachliche und formale Fehler beeinträchtigt. All diese behebbaren Schwächen lassen spätestens, wenn sich ganze Passagen inklusive Schreibfehlern doppeln, ein sorgfältiges Lektorat schmerzlich vermissen. Wer sich davon allerdings nicht aufhalten lässt, erhält reichhaltige und versierte Einsichten in Wegmarken der politischen Organisationsgeschichte der bundesdeutschen IG Metall durch einen Kenner der Materie für eine Periode, für die ein historischer Überblick längst überfällig war.
Anmerkungen:
[1] Knud Andresen: Gebremste Radikalisierung. Die IG Metall und ihre Jugend 1968 bis in die 1980er Jahre, Göttingen 2016.
[2] Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. Auflage, Göttingen 2012; Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019.
[3] https://www.germanlabourhistory.de/ (letzter Zugriff 11.3.2021).
Anne Kremer