Thomas Kohl: Streit, Erzählung und Epoche. Deutschland und Frankreich um 1100 (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters; Bd. 67), Stuttgart: Anton Hiersemann 2019, 559 S., ISBN 978-3-7772-1926-4, EUR 188,00
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Das Jahr 1100 kann - so glaubte sowohl die deutsche als auch die französische Forschung - als einer der Wendepunkte des Mittelalters gelten. In Deutschland hat man dies am 'Investiturstreit' festgemacht, in Frankreich an der 'Feudalisierung'. Wendezeiten gelten oftmals als Zeiten der Unruhen, die erst nach der Transformation zur Ruhe kommen.
Diese Meistererzählung der Wende um das Jahr 1100 in Deutschland und Frankreich in Frage zu stellen, hat sich Thomas Kohl mit seiner Tübinger Habilitationsschrift vorgenommen. Zu diesem Zweck nimmt er anhand eines sorgfältig ausgesuchten Vergleichskorpus aus Deutschland und Frankreich Auseinandersetzungen in den Blick, die bis dato immer als Musterbeispiele für die Konfliktlinien des 11. Jahrhunderts galten setzt sie in Kontexte, die weit jenseits der Grundlinien der bis dato identifizierten Konfliktfelder liegen. Dies erfordert eine Aufarbeitung der untersuchten Konflikte im Detail, die das Buch allein schon lesenswert machen würde.
Im ersten Kapitel (11-59) legt Kohl sein Erkenntnisinteresse dar, das im Wesentlichen drei Aspekte erfassen soll: Eine gründliche Erarbeitung der zu vergleichenden Konfliktsituationen, eine Richtigstellung der Erklärung von der 'Wendezeit' und - dies erfolgt fast ein wenig nebenbei - die Einordnung in die Konfliktforschung, insbesondere die Frage nach Versöhnungsritualen.
Im Anschluss (61-97) wird die Auswahl der Quellen genau erläutert. Im Grunde genommen müssen die Vergleichsräume drei Kriterien entsprechen: Die dortigen Konflikte müssen als symptomatisch für die Wendezeit gelten. Sie müssen in den Quellen ausführlich genug behandelt sein, um eine Basis für die Untersuchung zu ermöglichen und die Quellen müssen einigermaßen vergleichbar sein. Das erste Kriterium erfüllen die untersuchten Regionen problemlos. Die Grafschaften Anjou und Maine galten schon lange als Musterbeispiele für die Feudalisierung und, dass der deutsche Südwesten ein Schwerpunkt des Investiturstreits war, wird niemand ernsthaft bestreiten wollen. Auch was die Menge der Quellen angeht, können beide Regionen mit ausreichend Material aufwarten. Nur die Art der Quellen ist deutlich anders, mit einem Schwerpunkt auf der Chronistik im Südwesten Deutschlands und einer eher Urkunden- und Rechtsquellen- lastigen Quellenlage in Anjou und Maine. Kohl argumentiert, dass die narrativen Elemente von Urkunden, die das Ende einer Auseinandersetzung schlüssig erklären mussten, im postfaktischen Arrangieren der Ereignisse auf ein bestimmtes Erklärungsmuster hin, mit der Chronistik aus Süddeutschland vergleichbar seien. Mit dieser Erläuterung (87-97) ist auch bereits eines der Hauptthemen des Buches angesprochen: Erzählungen über die Auseinandersetzung sind immer zugleich auch als deren Interpretation zu verstehen und von der Rückschau geprägt.
In den folgenden Kapiteln werden die Konflikte in den untersuchten Regionen unter diversen Gesichtspunkten abgearbeitet: Der Aufbau der Kapitel ist dabei immer ähnlich. Die Konflikte in Frankreich und im Reich werden ausführlich beleuchtet. Wie kaum anders zu erwarten, ergibt sich bei dieser Betrachtung, dass die Konflikte eben keinesfalls Ausdruck von allgemeinen Entwicklungsprozessen waren, sondern dass sie letztlich nur im Gefüge der regionalen Bedingtheiten vollständig zu verstehen sind. Größere Zusammenhänge wie der sogenannte Investiturstreit im Reich können im Einzelfall verstärkend wirken. Das beste Beispiel dafür dürften die Konflikte im deutschen Südwesten sein, bei denen Autoren wie Berthold von Reichenau bei der Darstellung die regionalen Befindlichkeiten ganz zugunsten des reinen, übergeordneten, religiösen Konfliktes vernachlässigten und so ihre Partei als Kämpfer für den rechten Glauben identifizieren konnten.
Im Kapitel über Besitzkonflikte (99-156) kommt Kohl zu dem Schluss, dass das urkundliche Material aus Frankreich Routinen zur Lösung von Konflikten nahelegt, die es im Reich laut Ausweis der wenigen vorhandenen Urkunden möglicherweise weniger ausgereift auch gegeben hat.
Die Bürgerkriege (157-237) werden als mit normalen Mitteln unlösbar eingeschätzt, da eine übergeordnete Vermittlungsinstanz nicht vorhanden war. Die Kontrolle über das Narrativ war bei diesen noch bedeutender, weil eine Konfliktlösung nur durch Überzeugung der anderen Seite erfolgen konnte (233-237). Übergeordnete Entwicklungen mögen hier doch eine Rolle gespielt haben: Bei der Frage nach der rechten Herrschaftsnachfolge ging es auch um eine Bewertung der Eignung des Herrschers, die mit der Kirchenreform verschärft gestellt wurde.
Eine Änderung von Konfliktlösungsstrategien in beiden Reichen wird am Beispiel der Bischöfe festgemacht (239-309). Von den Narrativen her konstatiert Kohl eine stark polarisierende Darstellung, die insbesondere die bis dato unbekümmert vollzogene Laieninvestitur und die Simonie in schlechtes Licht rückte. Diese Verschiebung von Bewertungen ist indes in einen langen Prozess einzuordnen, da sich die Verurteilung von Simonie schon vorher beobachten lässt (Wipo) und der Aufstieg eines Bischofs in Königsdienst auch in späteren Zeiten nicht völlig verpönt ist.
Bei den etwas unspezifischen 'Langen Konfliken' (311-357) geht es um Besitzstreitigkeiten, die sich über mehrere Jahrzehnte hinzogen, an denen sich die Verschiebung von Argumenten gleichfalls ablesen lässt.
Auch im Kapitel 'Statuskonflikte' (359-443) geht es um lang andauernde Konflikte, hier aber um den Sonderfall der 'Freiheiten' der Kirchen. Die Beispiele zeigen hier besonders eindrücklich, wie sehr die Einzelfälle bei aller zunehmenden Bedeutung des Papstschutzes eben doch von den regionalen Begebenheiten und historischen Zufällen geprägt sind.
Als Ergebnis bleibt festzuhalten (445-477): Der Vergleich der beiden Regionen ist lohnend und bringt neue Gesichtspunkte zu Tage. In der regionalen und vergleichenden Betrachtung verschwimmt die Wende von 1100, während gemeinsame Entwicklungen wie die Schärfung des Bischofsideals deutlicher hervortreten. Ganz sicher beleben die Einzelbeispiele auch die Konfliktforschung. In einem Punkt möchte die Rezensentin dem Autor indes widersprechen. Dass die Konfliktlösungsstrategien in der nachträglichen narrativen Bearbeitung oft Rituale beschreiben, muss nicht bedeuten, dass Rituale nur der Kohärenz wegen in die Erzählung eingefügt wurden. Denn zumindest die Vorstellung von öffentlichen rituellen Versöhnungen spielte eine erhebliche Rolle in der Darstellung von kohärenten Erzählungen von Konflikt und deren Lösung. Entscheidend ist, dass die Erzählung von der Versöhnung (und damit auch das entsprechende Ritual) als 'Geschehnis' anerkannt wurde. Bei der Betonung der nachträglich im Narrativ erstellen Kohärenz hätte sich die Rezensentin gelegentlich eine Rückbindung gewünscht, wie diese dann wiederum auf die Konfliktführung wirkten.
Angesichts der Fülle an Beispielen, die ausführlich erarbeitet werden, werden zukünftige Leser und Leserinnen für das ausführliche Register überaus dankbar sein, denn nicht nur für die Frage nach den Wendezeiten, nicht nur für den Beweis, dass der transnationale Vergleich nach wie vor 'Meistererzählungen' der nationalen Geschichtswissenschaft aufbrechen kann, sondern auch für die einzelnen behandelten Regionen dürfte der Band sich als nützlich erweisen.
Alheydis Plassmann