Rezension über:

Marjan Sterckx / Tom Verschaffel (Hgg.): Sculpting Abroad. Nationality and Mobility of Sculptors in the Nineteenth Century (= XIX. Studies in Nineteenth-Century Art and Visual Culture), Turnhout: Brepols 2020, 160 S., 39 Farb-, 28 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-58027-2, EUR 95,00
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Rezension von:
Christian M. Geyer
Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Christian M. Geyer: Rezension von: Marjan Sterckx / Tom Verschaffel (Hgg.): Sculpting Abroad. Nationality and Mobility of Sculptors in the Nineteenth Century, Turnhout: Brepols 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/35212.html


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Marjan Sterckx / Tom Verschaffel (Hgg.): Sculpting Abroad

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Das Sonderforschungsprojekt "In search of a national (s)cul(p)ture. Belgian sculptors abroad and foreign sculptors in Belgium (c. 1815-1916)" (2012-2016) der belgischen Universität Gent war eigentlich ein Promotionsstipendium. [1] Betreuer der Doktorandin Jana Wijnsouw waren die Kunstgeschichtlerin Marjan Sterckx (Gent) und der Kulturhistoriker Tom Verschaffel (Löwen).

Es ist Zeichen sowohl des Gespürs für ein interessantes Thema als auch der exzellenten Vernetzung der beiden Betreuer, welch hochkarätig besetztes Symposium sie 2016 zum Abschluss des Projektes organisieren konnten. [2] Mehr als zwanzig Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker aus Museen und Universitäten Belgiens, Frankreichs, Großbritanniens, Hollands und den USA referierten unter dem weit gespannten Titel "Sculpting abroad". Der vorliegende Band dokumentiert mit einer Einleitung der beiden Herausgebenden und zehn Beiträgen (je 8-14 Seiten) etwa die Hälfte der Vorträge. Das ist schon eine Leistung, wie jeder bestätigen kann, der je an der Drucklegung eines Sammelbandes beteiligt war, auch wenn man gerne alle interessanten Vorträge nachlesen würde. [3] Der Band ist großzügig bebildert und hat ein Namensregister, sowie Kurzbiografien der Autoren.

Was kann der Leser angesichts des Titels erwarten? Jana Wijnsouw präsentiert einen Überblick über "the local, national and international identity of sculptors in Belgium (1830-1916)", der anregt, ihre Dissertation zu lesen (19-29). In der ersten Phase nach der Unabhängigkeit Belgiens 1830 habe die Erstellung von Skulpturen für ein belgisches Pantheon identitätsstiftende Wirkung gehabt, wobei nur die Nationalität der Dargestellten, aber nicht die der Bildhauer kritisch diskutiert wurde. Ab der Mitte des Jahrhunderts nahm die Zahl belgischer Bildhauer erheblich zu, was mit großen Bauprojekten zusammenhing, die sich einerseits an den Projekten in Paris (Baron Haussmann) orientierten, aber auch ermöglichten, eigene stilistische Akzente zu setzen. Constantin Meunier (1831-1905), der ab 1880 vorwiegend bildhauerisch arbeitete und großen internationalen Erfolg mit der Darstellung arbeitender Menschen hatte, wurde dabei als nationale Identifikationsfigur betrachtet (26). In einem weiteren Überblickartikel betrachtet Fréderique Brinkerink "foreign sculptors active in the Netherlands (c. 1820-1890)" (45-56).

Auch wenn der präzisierende Untertitel des Sammelbandes vom neunzehnten Jahrhundert spricht, behandeln die restlichen acht Einzelstudien (u.a. zu Georges Houtstount, Constantin Meunier, Medardo Rosso, Auguste Rodin, Henry de Triqueti) ausschließlich Themen aus dem letzten Quartal dieses und dem ersten Quartal des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Namensregister fehlen Canova und Thorvaldsen, was signalisiert, dass weder der Neoklassizismus um 1800, noch die Entwicklung der nächsten Generationen von Bildhauern, Auftraggebern und Publikum in Vergleich mit dieser Periode thematisiert werden.

Aus Platzgründen kann leider nur eine der interessanten Einzelstudien besprochen werden. Anne-Lise Delmas untersucht "the international peregrinations of the 1889 bronze vase created by French sculptor Ringel d'Illzach and cast in Brussels" (99-111).

Aufgrund stilistischer und technischer Innovationen der monumentalen Vase machte sich der Künstler Hoffnungen, damit einen künstlerischen Durchbruch zu erzielen. Nach der Pariser Weltausstellung 1889 sorgten Künstler und Gießerei in wenigen Jahren für weitere Präsentationen der Vase auf Ausstellungen in London, erneut Paris, Chicago und Brüssel. Dies war nur dank der Fortschritte der Verkehrsinfrastruktur möglich. Noch relevanter ist allerdings die Verflechtung der nationalen Kunstszenen, die Kunstwerken unabhängig vom Ort ihrer Entstehung Interesse sicherte. Die Komplexität, die dafür je nach Ort unterschiedlich empfänglichen Ansprechpartner (Jury, Käufer) zur richtigen Zeit mit überzeugenden Argumenten zu erreichen, war offensichtlich zu hoch, so dass die Vase trotz aller Bemühungen als unverkäuflich zurück ging, erst in den 1970er Jahren nach Liquidation der Gießerei verkauft wurde und nun im Getty Museum steht.

Für diese hochinteressante Fallstudie scheinen Stichworte des Titels und der Einleitung relativ wenig Bedeutung zu haben. Statt Mobilität des Künstlers geht es um Mobilität des Kunstwerks. Beide sind aber keine neuen Phänomene des neunzehnten Jahrhunderts und es bliebe daher zu zeigen, welche Auswirkungen der beschleunigte Transport des Kunstobjekts durch Dampfschiff und Eisenbahn auf die Beeindruckung mehrerer nationaler Kunstszenen in kürzer Zeit hatte. Ein Vergleich mit der Situation vom Anfang des langen neunzehnten Jahrhunderts, wo zwar Eisenbahn und Dampfschiff fehlten, aber trotz Ochsenkarrentransport der Kunstwerke doch internationale Karrieren von Canova und Thorvaldsen möglich waren, wäre sicher aufschlussreich. Insofern spricht der in Sammelbänden häufig vorkommende geringe Bezug zwischen Systematisierungsansätzen der Einleitung und Einzelbeiträgen dafür, den Systematisierungsansatz argumentativ zu schärfen.

Das erinnert daran, dass es nach dem zweiten Weltkrieg in Europa systematische Ansätze zur Erforschung der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts gab. In Deutschland begann 1962 die Thyssen Stiftung ihr "Forschungsunternehmen 19. Jahrhundert". 1979 fand in Bologna der 24. Kongress des CIHA zum Thema "Die Skulptur im 19. Jahrhundert" statt. Horst W. Janson fasste den Forschungsstand zusammen und formulierte Aufgaben. [4] Speziell für die Skulptur haben Sammlungen wie das Musée d'Orsay enorm zur Sichtbarkeit der Vielfalt und der Menge der künstlerischen Produktion beigetragen.

Die enorme Zunahme von Detailkenntnissen wird aber bedauerlicherweise nur noch selten von Systematisierungsversuchen begleitet. In Ressourcen- und Themenkonkurrenz des Faches Kunstgeschichte hat das Thema deutlich an Bedeutung verloren, wofür die letzten CIHA Kongresse exemplarisch sind. Es ist deshalb sehr erfreulich und regt hoffentlich zur Fortführung an, dass Sterckx und Verschaffel die bescheidenen Mittel des Sonderforschungsprojektes nutzten, um interessante Detailforschung mit Versuchen theoretisch fundierter Fragestellungen und Zusammenhänge zu verbinden. Die beachtliche internationale Resonanz des Symposiums zeigt das Interesse hieran.


Anmerkungen:

[1] Projektbeschreibung verfügbar unter: https://research.flw.ugent.be/en/projects/search-national-sculpture-belgian-sculptors-abroad-and-foreign-sculptors-belgium-c-1815 (aufgerufen am 23.2.2021). Die Dissertation erschien 2018 unter dem gleichen Titel.

[2] Referenten und Vortragsthemen: https://www.sculptingabroad2016.ugent.be/programme/ (aufgerufen am 23.2.2021).

[3] Verzeichnis der Autoren und Titel der Beiträge des Sammelbandes: http://www.brepols.net/Pages/ShowProduct.aspx?prod_id=IS-9782503580272-1 (aufgerufen am 23.2.2021).

[4] Horst W. Janson: Die Plastik des 19. Jahrhunderts. Zum Stand der Forschung, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 38 (1981), Nr. 2, 98-102.

Christian M. Geyer