Renata Tańczuk / Sławomir Wieczorek (eds.): Sounds of War and Peace (= Eastern European Studies in Musicology; Vol. 10), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2018, 268 S., ISBN 978-3-631-75347-7, EUR 61,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der 75. Jahrestag der deutschen Kapitulation im Mai 1945 hat gerade wieder die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs wachgerufen - selbst wenn die großen Feierlichkeiten und Gedenkveranstaltungen weitgehend der Corona-Krise zum Opfer gefallen sind. Gleichzeitig hat die Pandemie unsere Sensibilität dafür geschärft, wie einschneidend historische Ereignisse in unsere Sinnes- und Alltagswahrnehmungen eingreifen und diese verändern können (die plötzliche Stille der leerer gewordenen Straßen, das Fehlen des körperlichen Kontakts zu anderen et cetera). Es ist daher kein schlechter Zeitpunkt, um den vorliegenden, 2018 erschienenen Sammelband zu lesen, der sich anhand der Veränderung städtischer Klanglandschaften mit dem Epochenjahr 1945 beschäftigt. Er geht auf die Arbeit des "Soundscape Research Studio" an der Universität Breslau (Wrocław) zurück. Entsprechend beschäftigen sich sechs der dreizehn Beiträge mit Wrocław (zwei davon beziehen sich auf dortige Klangkunstprojekte aus den Jahren 2014 und 2016). Daneben gibt es Fallstudien zu Amsterdam und zum Ruhrgebiet, zu Warschau (Warszawa) und Lemberg (L'viv) sowie einen Aufsatz zum Verhältnis von Trauma und Sound, der keine Stadt zum Gegenstand hat, sondern nach Formen des nonverbalen klanglichen Ausdrucks traumatischer Erfahrungen fragt.
Mit seinem Ansatz ordnet sich der Sammelband in die neuere Klang- und Soundscape-Forschung ein, die sich seit einigen Jahren - im Anschluss an den Pionier der Sound Studies R. Murray Schafer - mit dem Wandel urbaner Klanglandschaften beschäftigt. Vorreiterin war hier etwa die niederländische Technikhistorikerin Kariin Bijsterveld, auf die sich die Beiträge des Sammelbands (neben Schafer) mehrfach beziehen. Die Erkenntnisinteressen in diesen Forschungen zum historischen Wandel urbaner Klanglandschaften sind unterschiedlich gelagert. Zum einen gibt es ein genuines Interesse an den Klängen selbst, deren unterschiedliche Dramatisierungen (nach Bijsterveld) in Form von "auditory topoi" untersucht und die dann in Kategorien wie "intrusive sound", "sensational sound", "comforting sound" oder "sinister sound" eingeteilt werden (134). Zum anderen können diese Klänge und die Veränderung der Klangwahrnehmung genutzt werden, um allgemeinere Fragen nach historischer Erfahrung und historischem Wandel zu behandeln. Je stärker die Argumentation in diese Richtung entwickelt wird, desto interessanter ist das auch für Leserinnen und Leser, die nicht selbst aus dem Feld der Sound History kommen.
Im vorliegenden Sammelband finden sich Beispiele für beide der genannten Tendenzen. Einige Beiträge erschöpfen sich in der recht deskriptiven Rekonstruktion von Klangereignissen und Klangerwähnungen in unterschiedlichen Quellen, von Tagebüchern über nachträgliche Erfahrungsberichte bis hin zu literarischen Texten. Daneben finden sich aber auch breiter angelegte Perspektivierungen des Themas, die das Erkenntnispotential der Sound History für die sogenannte "allgemeine Geschichte" deutlich machen. Dazu gehören etwa die Beiträge, die den Wandel der deutschen Stadt Breslau in die polnische Stadt Wrocław anhand der urbanen Klänge verfolgen. Karolina Jara behandelt mit der akustischen Inbesitznahme Breslaus durch die Nationalsozialisten vor dem Krieg die Vorgeschichte dazu. Die Mitherausgeberin Renata Tańczuk vergleicht in ihrem Beitrag dann die deutschen, polnischen und russischen Erfahrungsberichte aus dem Jahr 1945, die von der "terrible, hellish symphony" (182) der Bombenangriffe bis zur Verdrängung des Deutschen durch das Polnische im öffentlichen Raum reichen. Der zweite Herausgeber, Sławomir Wieczorek, beschäftigt sich in seinem Aufsatz schließlich mit einem ganz spezifischen, für den Sommer 1945 in Breslau beziehungsweise Wrocław charakteristischen Klanggeschehen, nämlich dem nächtlichen Töpfe-Schlagen und den Hilferufen, mit denen sich die vor Ort verbliebene deutsche Bevölkerung gegenseitig vor Plünderungen und anderen gewaltsamen Übergriffen warnte und mit denen sie die polnischen und russischen Ordnungshüter alarmierte.
Neben dieser Art von Geräuschen geht es in anderen Beiträgen auch um Musik als klangliches Signum des Neuanfangs, etwa am Beispiel von Jazz-Bands in Dortmund im Beitrag von Uta C. Schmidt. Mehrere Aufsätze beschäftigen sich mit der Rolle des Radios als akustischem Medium, das etwa in Warschau zeitweise über Lautsprecher in den Straßen gespielt wurde. Ein wiederkehrendes Thema ist schließlich das Verhältnis von Klangerinnerung und Trauma, das nicht nur im abschließenden, eher theoretisch gehaltenen Beitrag von Dorian Lange behandelt wird, sondern anhand von Zeitzeugenberichten auch in dem Beitrag von Katarzyna Naliwajek-Mazurek über Warschau und anhand einer literarischen Bearbeitung, dem Erzählzyklus "Stare zycie" (Altes Leben) von Miron Białoszewski, im Beitrag von Jadwiga Zimpel.
Wie aus dieser knappen Aufzählung deutlich wird, verfolgen die einzelnen Beiträge trotz ihrer thematischen Nähe zum Teil recht unterschiedliche Ansätze und Gegenstände. Dem Band fehlt ein synthetisierender Zugriff, der diese unterschiedlichen Ansätze argumentativ zusammenführt. Die etwas knapp ausgefallene Einleitung leistet diese Zusammenführung leider nicht. So ergibt sich kein wirklich starkes, gemeinsames Argument des Bands, das über die Einzelbeiträge hinausginge. In diesen Beiträgen finden sich aber viele detailgenaue Beobachtungen und historische Erkenntnisse, die als Bausteine für eine auditive Erfahrungsgeschichte des Kriegsendes in Europa 1945 dienen können.
Daniel Morat