Simon Karstens: Gescheiterte Kolonien - Erträumte Imperien. Eine andere Geschichte der europäischen Expansion 1492-1615, Wien: Böhlau 2020, 619 S., ISBN 978-3-205-21207-2, EUR 55,00
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Wenn es um die Epoche des Ausgreifens Europas in die Welt am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit geht, herrschte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein das Narrativ vom Aufstieg Europas in der Welt vor. Das Geschichtsbild wurde von Darstellungen geprägt, in denen schier übermenschliche Heldenfiguren im Dienste nationaler Größe und als Bannerträger europäischer Kulturüberlegenheit bei der Öffnung neuer Herrschafts- und Wirtschaftsräume Erfolgsgeschichte schrieben. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die verheerenden Folgen der europäischen Expansion für die indigenen Völker und Kulturen immer stärker ins öffentliche Bewusstsein traten, wurde eine Revision alter Geschichtsbilder notwendig - zumal im Lichte neuerer globalgeschichtlicher, transnationaler Perspektiven und der Ergebnisse postkolonialer Studien im Zeichen von 'modernidad', 'colonialidad' und 'decolonialidad.' [1]
Die hier zu besprechende Studie "Gescheiterte Kolonien - Erträumte Kolonien" von Simon Karstens gehört zweifellos zu diesen historiographischen Neuansätzen, die mit anderen Fragestellungen und innovativen Methoden zu einer Korrektur der tradierten Vorstellungen beitragen, und bietet in der Tat, wie es auch im Untertitel heißt, "eine andere Geschichte der europäischen Expansion 1492-1615". Ganz allgemein interessiert sich der Autor für die Bedeutung, welche "die in der Historiographie als gescheitert charakterisierten und nachrangig behandelten kolonialen Projekte von Akteuren aus England und Frankreich für die europäische Expansion hatten" (19), die wiederum als gesamteuropäisches, über nationale Grenzen hinweg verknüpftes Phänomen wahrgenommen wird. Die Ereignisse in der Alten und der Neuen Welt werden über den atlantischen Ozean hinweg als zusammenhängendes Gesamtgeschehen verstanden. Aufs engste miteinander verknüpft werden auch die Fakten der gescheiterten Kolonialunternehmungen mit dem dazugehörigen Schriftgut (Anträge, Gutachten, Berichte), das in England, Frankreich und im Alten Reich produziert wurde. Insofern - ganz im Sinne Michel Foucaults (1926-1984) - die Methoden der historisch-kritischen Quelleninterpretation und literaturwissenschaftliche Untersuchungstechniken bei der Diskursanalyse der zeitgenössischen Texte und Publizistik explizit mit einbezogen werden, ist die vorliegende Arbeit im interdisziplinären Grenzbereich zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft angesiedelt.
Nach einer nicht immer stringenten Einleitung (13-42) werden in einem ersten Hauptteil die zahlreichen - mit Ausnahme von Jamestown (1607) und Quebec (1608) - gescheiterten Kolonialprojekte im langen 16. Jahrhundert in zwei Abschnitten dargestellt: im zweiten Kapitel (43-100) die Projekte der frühen Expansion von 1492 bis ca. 1530 und in Kapitel drei (101-337) diejenigen von 1530 bis 1615 - jeweils in enger Wechselbeziehung zu den zeitgenössischen Quellen, deren Autoren und Entstehungskontext, Leserschaft und Rezeptionsgeschichte ausführlich behandelt werden. Im vierten Kapitel (339-511), dem zweiten Hauptteil, werden die Inhalte und Argumente der Texte "als Teil eines umfassenden Diskurses über koloniale Expansion" (25) ausgewertet und interpretiert. Dabei ergibt sich ein Gesamtbild, "das die Geschichte der transatlantischen europäischen Expansion nahezu von ihrem Beginn an als multilateral verflochtenes Phänomen zeigt" (514) - ungeachtet aller zunehmend protonationalen Tendenzen. Nach dem resümierenden Schlusskapitel (513-522) runden ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (523-613) und ein Personenregister (615-619) die Arbeit ab.
Ausgehend von der Frage, wie die zeitgenössischen Quellen in einer transnationalen Gesamtperspektive vom Scheitern erzählen oder darüber schweigen, definiert der Autor zunächst vier Raumkategorien, die Bedeutung für Erfolg oder Misserfolg einer Unternehmung hatten: (1) die Ausgangssituation in der Kolonialmacht; (2) den Atlantik, der Alte und Neue Welt verbindet; (3) die Lage in der Neuen Welt und (4) die jeweilige Kolonie. In einem zweiten Schritt arbeitet er dann vier typische Argumentationsstrategien heraus, die im transnationalen Narrativ vom Scheitern immer wieder zu finden waren. Im Einzelnen handelt es sich dabei um folgende Erklärungsmuster: (1) der Hinweis auf das Eingreifen übernatürlicher Kräfte (Transzendierung); (2) die Heroisierung der jeweiligen Protagonisten im Kampf gegen Widrigkeiten aller Art; (3) die Übertragung der Verantwortung an Dritte (Schuldzuweisung) sowie (4) der Verweis auf positive Aspekte wie den Erwerb wichtiger neuer Kenntnisse als Voraussetzung für künftige Erfolge. Scheitern wird also zumeist nicht offen und explizit kommuniziert, sondern verbrämt, indirekt oder als zwar missliche, aber doch notwendige Zwischenstation auf dem Weg zum Erfolg.
Damit beschreibt Karstens transnationale Vorstellungswelten, sogenannte 'mental maps', die vor den ersten englischen und französischen Niederlassungen in der Neuen Welt existierten. Diese Narrative und Deutungsmuster, die im langen 16. Jahrhundert der gescheiterten Kolonialprojekte entwickelt wurden, blieben wirkmächtig, wie der Autor nachweist, auch in der Zeit der erfolgreichen Kolonialpolitik und fanden sogar Eingang in die Geschichtsschreibung bis in die Gegenwart. Die Berichte über die gescheiterten Kolonialprojekte wurden damit zu rhetorischen Werbe- und Motivationsträgern, die den Rahmen für künftige Kolonialreiche absteckten. Damit reflektierten sie grenzübergreifend unerfüllte Visionen von durchaus national gedachten kolonialen Bestrebungen und stellten "ein Arsenal von Argumenten, Deutungen, historischen Traditionen und Narrativen (bereit), das ein wichtiges und wachsendes Fundament für zukünftige Projekte bildete" (521), ebenso wie für die Konstruktion von Identitäten und Alteritäten.
Simon Karstens verfolgt ambitionierte Ziele in seiner Arbeit, die den Perspektiven von entangled history und histoire croisée verpflichtet ist: historische Realitäten in den zugehörigen Schriften zu spiegeln, die Räume diesseits und jenseits des Atlantiks zu einem einheitlichen Aktionsraum zu verbinden und auf der Grundlage nationaler Berichte eine transnationale Gesamtschau europäischer Expansion zu bieten. Diese Ziele durchgehend umzusetzen, gelingt dem Autor nicht immer: So schimmern in der Darstellung durchaus nationale Perspektiven durch und Indigene werden nicht in jeder Situation als selbstbestimmte Subjekte der Geschichte dargestellt (z. B. 55). Dass Wissen über Seerouten, das natürlich höchster Geheimhaltung unterlag, erklärt vielleicht manche Zurückhaltung von Monarchen bei der Unterstützung von Drucken (98). Ob der gewählte Ansatz den Erkenntnisgewinn tatsächlich vergrößert, darf zumindest hinterfragt werden. Denn weder die vier Raumkategorien noch die vier Argumentations- und Deutungsstrategien, die mittels Diskursanalyse herausgearbeitet worden sind, bleiben einer traditionellen quellenkritischen Textanalyse verborgen. Und Brasilien wurde natürlich nicht von Francisco, sondern von Pedro Álvares Cabral (1466?-1520?) entdeckt (53). Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen bleibt das Gesamturteil über das vorliegende Werk durchweg positiv. Zum ersten Mal wird eine Gesamtschau der gescheiterten Kolonialprojekte und der daraus erwachsenen Publizistik geboten (514), die eine Überfülle an Details und Informationen zum Expansionsgeschehen der Frühen Neuzeit enthält, die im Rahmen dieser Rezension nicht berücksichtigt werden konnten.
Anmerkung:
[1] Luciana Ballestrin: América Latina e o giro decolonial, in: Revista Brasileira em Ciência Política. Nr. 11 (Brasília, maio-agosto 2013), 89-117; Walter D. Mignolo: Geopolitics of sensing and knowing: On (de)coloniality, border thinking and epistemic disobedience, in: Confero. Vol. 1. Nr. 1 (2013), 129-150; Walter D. Mignolo / Arturo Escobar (eds.): Globalization and the decolonial Option, London / New York 2010.
Peter Mainka