Martin Conway: Western Europe's Democratic Age. 1945-1968, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2020, XIV + 357 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-0-691-20348-5, USD 35,00
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Allzu lange wurde der demokratische Charakter Westeuropas nach 1945 von der Historiografie nicht für erklärungsbedürftig befunden. Wohl kam die Frage nach der Demokratisierung der postfaschistischen Gesellschaften in den Blick der Historikerinnen und Historiker, gerade für die Bundesrepublik aber wurde "Demokratisierung" vielfach als Annäherung an einen "Westen" und damit implizit auch an ein Westeuropa beschrieben, in dem die Demokratie schon unzweifelhaft etabliert schien. Es ist demgegenüber das große Verdienst von Martin Conways Monografie, die bemerkenswerte Stabilisierung der parlamentarischen Demokratie in weiten Teilen Westeuropas nach 1945 zu denaturalisieren, und zugleich nach ihrem spezifischen Charakter und ihren Entstehungsbedingungen zu fragen. Western Europe's Democratic Age legt somit einen wichtigen Grundstein sowohl für eine Zeitgeschichte der Demokratie als auch für eine Geschichte Westeuropas seit 1945 - eines Westeuropas, das sich nicht zuletzt mit dem Projekt der Demokratie eine eigene Identität zu geben suchte.
Demokratie, so Conways Ausgangspunkt, war bei Kriegsende ein Projekt mit unklaren Zügen. Welche Gestalt sie annehmen sollte, war keineswegs eindeutig. Weder ihr Erfolg war absehbar, noch die wachsende und in den 1960er Jahren dann fast selbstverständlich erscheinende Identifikation der Westeuropäer mit ihr. So sehr Konsumgesellschaft, Migration, Bildungswandel und vieles andere die Gesellschaften in den kommenden Dekaden verändern sollten, so sehr war doch die Demokratie dieser Epoche zunächst von den Erfahrungen der Vergangenheit geprägt. Aus ihnen heraus, so Conways zentrales Argument, entschieden sich Westeuropäer bei Kriegsende für eine begrenzte Form der Demokratie. Stabilität und Regierbarkeit standen im Mittelpunkt des Projekts. Der demokratische Bürger (Bürgerinnen kamen noch selten in den Blick der Regierenden) wurde primär als Wahlbürger und jenseits dessen stärker über seine Pflichten gegenüber dem Staat denn über seine Rechte definiert. Conway zufolge verband diese Sicht weithin Regierende und Regierte. Die Darstellung und Erklärung dieses eingehegten Charakters der Nachkriegsdemokratien zieht sich als roter Faden durch das Buch; der Autor rekurriert dabei auf die Begriffe der "controlled democracy" (88, mit Bezug auf Oliver Rathkolb), der "disciplined democracy" (121, mit Bezug auf Jan-Werner Müller), auch von "governed democracies" (201) spricht er. Zumeist und wohl bewusst nutzt er jedoch den offenen Begriff der "postwar democracy" und zeichnet die Vielfalt der Faktoren nach, die diese in ihren verschiedenen Spielformen prägten.
Zunächst skizziert Conway ebenso konzise wie eindrücklich den Prozess der politischen Stabilisierung Westeuropas nach Kriegsende. Besatzung und Regimewechsel hatten die Mehrzahl der am Krieg beteiligten Länder grundlegend erschüttert und etablierte politische Strukturen zerstört. So stand in den 1940er Jahren die Wiederherstellung staatlicher Handlungsmacht im Vordergrund. Begleitet wurde das von der Entmachtung lokaler Autoritäten, die in der Phase des langsamen Vordringens der Alliierten auf dem europäischen Kontinent zentrale Akteure gewesen waren. Entscheidend für die Konsolidierung staatlicher Lenkungsmacht war, in einem zweiten Schritt, die Marginalisierung des Kommunismus. Zwar blieben die kommunistischen Parteien etwa in Frankreich und Italien einflussreich, Ende der 1940er Jahre aber war nicht mehr denkbar, dass sich der Kommunismus gegen die Demokratie durchsetzen würde. Ein wenig überrascht die Deutlichkeit, mit der Conway am Ende des ersten Kapitels verpasste Chancen des Aufbruchs unterstreicht, bleibt er mit eigenen Urteilen doch ansonsten zurückhaltend und sucht die Entwicklungen aus ihrer Zeit zu verstehen. Beispielhaft dafür ist sein Kapitelfazit, das primäre Ziel der Nachkriegsdemokratie sei die Stabilität gewesen, und gemessen an diesem Ziel sei sie als erfolgreich zu bewerten.
Vor der Folie welcher Vergangenheit(en) aber entwarfen sich die westeuropäischen Nachkriegsdemokratien? Die eingehegte Demokratie, so argumentiert Conway in seinem zweiten Kapitel, wurde weniger als Gegensatz zu faschistischen und autoritären Regierungsformen, sondern primär in Abgrenzung zu den gescheiterten demokratischen Experimenten der Zwischenkriegszeit entworfen. So gängig diese Interpretation für die Bundesrepublik ist, so wichtig ist es, die Abgrenzung zur krisenhaften Zwischenkriegszeit auch für andere westeuropäische Gesellschaften zu betonen. Überdeckt wurde das Ausmaß des Neuaufbruchs mancherorts von neuerfundenen Mythen alter demokratischer Traditionen. Der Autor unterstreicht überzeugend die neue Kohäsionskraft des Projekts der Demokratie als prägenden Faktor für das Nachkriegs-Westeuropa. Auch der Nationalismus der Nachkriegszeit, so fügt er an, sei von der Sprache der Demokratie domestiziert und ihr so nicht mehr gefährlich geworden. Waren aber wirklich chauvinistische und rassistische Denkweisen nun weitgehend an den Rand des politischen Spektrums gebannt? Gehörten rassistische Annahmen nicht vielmehr zum Mainstream des demokratischen Projekts - in den imperialen Mächten Frankreich und Großbritannien ebenso wie im postnationalsozialistischen Westdeutschland? Das aggressive Potenzial der Nachkriegsdemokratien, ihre innere Gewalt, die Schärfe ihrer Ausgrenzungsstrategien, die Härte ihres Konfliktaustrags und auch ihre imperiale Gewalt finden bei Conway zwar Erwähnung, rücken aber vergleichsweise in den Hintergrund.
Den christ- und sozialdemokratischen beziehungsweise sozialistischen Parteien schreibt Conway eine zentrale Rolle für die spezifische Prägung und Konsolidierung der westeuropäischen Nachkriegsdemokratien zu. Ihnen widmet er ein eigenes Kapitel ("Debating Democracy"), das den Wandlungsprozess beider politischen Lager gelungen zueinander in Bezug setzt und das Spannungsfeld ihrer Demokratievorstellungen präzise auslotet. Beide (stärker aber der politische Katholizismus) hatten durchaus Traditionen einer Distanz zur parlamentarischen Demokratie. Beide aber wurden in der spezifischen Konstellation der 1940er Jahre zu zentralen Akteuren in den neuen parlamentarischen Systemen, prägten die neuen Demokratien in ihrem Geiste und eigneten sie sich in diesem Prozess in neuer Weise an; in je spezifischer Form spielte dafür die Abgrenzung vom Kommunismus eine entscheidende Rolle.
Während die Kapitel 1-3 auf die Demokratie als Regierungsform fokussieren, richtet Kapitel 4 mit den Begriffen class, gender und consumption den Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen. Auch in diesem Kapitel widmet der Autor dem Staat viele Seiten, gesellschaftliche Akteure erhalten weniger Augenmerk, der Alltag bleibt eher fern. Die Beobachtungen zu den sich wandelnden Konturen des Verhältnisses von Staat, Individuum und Demokratie sind jedoch ebenso konzise wie erhellend. Präzise analysiert Conway anschließend in wenigen Absätzen den Wandel der Landwirtschaft mit seinem begleitenden Kulturwandel, analysiert den Bedeutungsverlust der Arbeiterklasse, für die die Demokratie allenfalls "a half-victory" (235) war, seziert die Grenzen, die Alter und Geschlecht für Partizipationschancen bedeuteten. Während die ersten Kapitel einen jeweils deutlichen Schwerpunkt in der frühen Nachkriegszeit haben, widmet sich Kapitel 5 den 1960er Jahren. Klar diagnostiziert Conway einen Wandel der Demokratievorstellungen, in der eine Sprache der Rechte neue Kraft gewann. Gegenüber vielen Darstellungen, in denen die Perspektive der "1968er" zum Angelpunkt wird, dezentriert sein Narrativ die Dekade des Protests und ihre Protagonisten in erfrischender Weise. In der Erklärung des Wandels macht er nicht zuletzt globale Kontexte stark.
Seit den 1970er Jahren, so der Tenor von Conways Schlusskapitel, wuchsen zeitgenössisch die Sorgen um die Demokratie, zugleich auch die Kritik an und Desillusionierung mit ihr. Der Autor begegnet diesen wie allen zeitgenössischen Wahrnehmungen mit analytischer Distanz und stellt ihnen die Diagnose eines Formwandels der Demokratie entgegen. Dennoch ist auch seine Darstellung der Ära von einem pessimistischen Ton geprägt. Demokratische Aufbrüche der Dekade wie etwa die Neuen Sozialen Bewegungen nimmt er zur Kenntnis, stärker betont er jedoch Herausforderungen und Krisen. Die Folgen des Neoliberalismus der 1980er Jahre schließlich versteht er mit Bezug auf Wolfgang Streeck als Machtverlust der Demokratie: "Power and democracy had diverged, generating an impotence common to both rulers and ruled" (302).
In einem Spannungsverhältnis zu seinen Beobachtungen zur rapide wachsenden Lenkungsmacht des Staates und zur fortdauernden Wirkmacht der Nation steht die relativ geringe Bedeutung, die Conway nationalen Spezifika zuschreibt. Das ist einerseits eine notwendige Konsequenz der breiten Perspektive, sollte aber zugleich produktiven Widerspruch hervorrufen. "West Europeans" treten bei Conway häufig als handelndes Subjekt auf; nur wenige Franzosen, Italiener oder gar Briten aber sahen sich in der Nachkriegszeit als "Europeans", nur wenige reisten in die Nachbarländer, nur wenige verstanden die Sprache ihrer Nachbarn. Unterschiede zwischen politischen Kulturen, in der Aushandlung von politischen Konflikten, Unterschiede in der Auslegung des Zusammenhangs von Demokratie und Lebensstil, in ökonomischen Weichenstellungen, in der Rolle des Kommunismus und nicht zuletzt den Konzepten demokratischer citizenship waren bedeutend, je nach Flughöhe könnte man sagen: gravierend. Großbritannien spielt nur eine Nebenrolle in Conways Buch, eine Entscheidung, die aus der deutschen Perspektive besonders ins Auge fällt, hatte doch Großbritannien im deutschen Blick lange den Status einer demokratischen Vorbildnation, und galt es zusammen mit Frankreich häufig als Kern Westeuropas (eine Imagination, die allerdings von britischer Seite noch nie geteilt wurde). Marginal bleibt auch die Schweiz. Im Kern der Erzählung steht ein katholisch geprägtes Westeuropa, primär Frankreich, Italien, Österreich, Belgien und Westdeutschland, ergänzt um Perspektiven auf eine Reihe weiterer Gesellschaften. Solche Fokussierungen sind legitim, verstärken aber Conways Narrativ der Ähnlichkeit und Konvergenz. "Post-war democracy" steht bei ihm häufiger im Singular als im Plural.
Das elegant geschriebene Buch liefert eine Fülle von präzisen Beobachtungen und anregenden Überlegungen, deren Vielfalt eine Rezension nicht fassen kann. Mit seiner transnationalen Perspektive legt es jenseits nationaler Sonderwegserzählungen die Grundlage für eine Europäisierung der Demokratiegeschichte und entwickelt einen überzeugenden methodischen Zugang, der sich Teleologien entzieht. Conway erzählt diese Geschichte auf der Basis von Forschungsliteratur in mindestens vier Sprachen und einer Vielzahl von Quellen, darunter insbesondere Schriften von Politikern und Intellektuellen. Diese Auswahl impliziert einen bestimmten Blick auf die Nachkriegsdemokratien, dessen Grenzen die zukünftige Forschung als Herausforderung auffassen sollte, hier tiefer zu bohren. Anknüpfend an ein derzeit dynamisch wachsendes Forschungsfeld bedürfen Perspektiven von "unten" ebenso weiterer (transnationaler und komparativer) Forschung wie Nationalismus und Rassismus, Ausgrenzung und Konfliktaustrag, innere und äußere Gewalt, Repräsentations- und Partizipationsformen sowie die Vielfalt konkurrierender Demokratievorstellungen und -praktiken. Für die europäische Demokratie- und Zeitgeschichte aber hat Conways Buch einen ungemein produktiven Impuls geliefert; es wird für kommende Debatten ein unverzichtbarer Referenzpunkt bleiben.
Sonja Levsen