Martin Conway: Western Europe's Democratic Age. 1945-1968, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2020, XIV + 357 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-0-691-20348-5, USD 35,00
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1977 hatte die britische Punkband The Stranglers einen kleinen Hit mit "No more heroes". Man ist versucht, sich den damals 17-jährigen Martin Conway im Publikum vorzustellen, auch wenn autobiographische Erinnerungen an Vogelbeobachtung und klassische Musik anderes vermuten lassen. [1] Doch der Abgesang der Stranglers auf die Heldenfigur, ironisch gebrochen durch die eigene Hitwerdung, passt gut zum Opus Magnum des in Oxford lehrenden Historikers.
Mit Western Europe's Democratic Age hat der Belgienexperte gewissermaßen eine Bilanz seiner Forschungen über die europäische Nachkriegsgeschichte gezogen, die von der ersten bis zur letzten Seite ein nüchterner, ostentativ sachlicher Ton durchzieht. Mit Skepsis betrachtet Conway nicht nur alle revolutionären Hoffnungen seiner historischen Protagonisten, sondern mehr noch entsprechende Be- und Zuschreibungen späterer Historiker. Statt von Brüchen, Neugründungen oder gar Wundern spricht er von Entwicklungen, Übergängen und der Beharrungskraft des Alten. Conways eigene Erzählung kommt ganz ohne Heroen aus und benötigt daher auch keine Schurken: Stalin oder Hitler sind Geister der Vergangenheit, Friedrich Hayek, Henry Kissinger und Margaret Thatcher bloße Randfiguren. Prominent in Erscheinung tritt indes der französische Soziologe Raymond Aron, der den Virgil zu Conways Dante gibt; aus Arons Charakterisierung als "self-consciously pragmatist" und empiriegeleiteter "cold writer", dessen Werk "a seriousness and a durability denied to those of many of his contemporaries" habe (9), darf man wohl auch die Ambition des Verfassers herauslesen.
Seine Demokratisierungsgeschichte gliedert Conway in sechs thematisch nicht immer trennscharf, zugleich grob chronologisch organisierte Kapitel (Making, Thinking, Debating, Living, Contesting, Unmaking Democracy). Ihren Ausgang nimmt die Schilderung in den Nachkriegsplanungen sowie den retributiven Aufräumarbeiten nach 1945 - ein Thema, dem sich Conway in The Sorrows of Belgium gewidmet hat -, und mit "1968" neigt sich die Erzählung schließlich ihrem Ende entgegen. In dieser, von einem früheren Aufsatz [2] leicht abweichenden Periodisierung zeichnet sich der analytische Schwerpunkt des Bandes ab: Zwar wird das ökonomisch schwerere Terrain der 1970er Jahre quasi in Verlängerung der Gräben von "1968" mitgedacht, doch steht dies nicht im Zentrum des Interesses. Conway hat eine klassische Politik- und Ideengeschichte geschrieben, die hier und dort durch sozial- und kulturhistorische Perspektiven angereichert wird, als deren roter Faden aber die (Partei-)Politik und ihre ideologischen Leitlinien dienen.
Die Grundzüge dieser Geschichte sind vertraut, nicht zuletzt aus den Arbeiten von Tony Judt und Jan-Werner Müller [3]. Statt von 1945 als einem archimedischen Punkt auszugehen, identifiziert Conway die Jahre zwischen 1944 und 1953 als Scharnierperiode, in der stabile demokratische Strukturen geschaffen wurden. Anstelle revolutionärer Ambitionen und basisdemokratischer Experimente wurde das repräsentative, durch Parteien vermittelte und von Fachleuten professionell verwaltete Regierungsmodell in prozedural egalitären Wahlen affirmiert und buchstäblich eingeübt. Die Partizipation per Wahlzettel ergänzten bald zunehmende Teilhaberechte am Wohlfahrtstaat sowie intermediäre Organisationen - Gewerkschaften, Verbände, Kirchen -, die einerseits staatliches Handeln korporativ mitsteuerten, andererseits das demokratische Raster mit Fragezeichen unterlegten. Dass alle am Gelingen interessiert waren beziehungsweise umgekehrt im Falle des Scheiterns etwas zu verlieren hatten, war der Schlüssel zum Erfolg.
Für eben jenen Erfolg bedurfte es indes eines passenden Rahmens, der über Westeuropa hinauswies: die Sicherheitsgarantie unter dem US-amerikanischen Schirm, das geteilte, jedoch immer weniger akute Bedrohungsszenario durch den sowjetischen Block und die Verteilungsspielräume, die der wirtschaftliche Boom schuf. Zugleich galt es, so Conway, die Interpretationshegemonie darüber, was Demokratie eigentlich war, zu etablieren - gegenüber der Systemalternative der "Volksdemokratien", aber auch gegenüber der eigenen Vergangenheit. Die Zwischenkriegserfahrung kriselnder oder gescheiterter Demokratie war demnach mehr Ballast als Referenz, und umso wichtiger war es, den Nachweis gefestigter, leistungsfähiger Strukturen erbringen zu können.
Dies gelang, indem der interventionistische Machtanspruch staatlicher Instanzen sich selbst legitimierte: durch (Um-)verteilung, Symbolpolitik und Verfahrenswege, die etwa sozialistischen, feministischen und antikolonialen Rufen nach mehr Gleichheit und Freiheit entgegenkamen, ohne konservative Grundzüge aufzugeben. Das westeuropäische Erfolgsmodell, das Conway dezidiert nicht normativ beschreibt, war eines, das die weiße, männlich dominierte und christlich-demokratisch wählende Mittelschicht bevorzugte und anderen Gruppen gerade so viele Zugeständnisse machte, wie der politische Konsens es erforderte. Conways Verständnis von Mittelschicht als "Schwelle" (228) statt als feste Kategorie leuchtet hier unmittelbar ein.
Seine Integrationsangebote definierten indes auch die Grenzen des Modells: Dort, wo die Zugeständnisse per definitionem unzureichend bleiben mussten, in den Kolonien, half die demokratische Verbrämung überhasteter Dekolonialisierung nicht, um den grundsätzlichen Gegensatz von Demokratieanspruch und spätimperialer Wirklichkeit zu verdecken. Und in einer transnationalen Volte schwappte diese Kritik zurück nach Westeuropa, wo sie sich mit dem Unwillen signifikanter, wenngleich keineswegs mehrheitsfähiger Gruppen verband, den konservativen Wertekonsens mitzutragen statt endlich mehr Demokratie zu wagen. Dennoch spricht Conway "1968" die revolutionäre Qualität ebenso ab wie "1945", auch wenn er die von Judt postulierte Kritik vermeintlich apolitischer Haltungen qualifiziert und von einer "post-political language of social critique which decoupled the critical analysis of western society from political action" (271) spricht.
Conways Erzählung einer konservativen, schrittweisen Demokratisierung, deren Unvollkommenheiten und Inkohärenzen entscheidend zum Erfolg beitrugen, hat einiges für sich und wird mit ruhigem Timbre, wiewohl mitunter spitzen Formulierungen vorgetragen. Souverän stützt der britische Historiker sein Argument auf eine beachtliche Literaturauswahl, obschon die Leerstellen bemerkenswert sind: Für die Westernisierungs- und Liberalisierungsnarrative, welche die deutsche Forschung kennzeichnen, interessiert sich Conway nicht, und selbst Amerikanisierung taucht lediglich als zeitgenössische Diagnose auf, nicht als historische Deutung. Transnationale Arbeiten wie jene Daniel Rodgers' zum Ideentransfer zwischen Neuer und Alter Welt sucht man in der Bibliografie ebenso vergebens wie neuere Arbeiten zu Demokratievorstellungen etwa von Claudia Gatzka und Stefanie Middendorf; Francis Sejersteds große Studie zum 20. Jahrhundert in Schweden und Norwegen, im selben Verlag erschienen wie Conways Buch, hätte möglicherweise Anlass gegeben, doch einen intensiveren Blick nach Skandinavien zu werfen.
Die drei größeren Punkte indes, die Conway seinen Lesern abschließend mit auf den Weg gibt, sind bedenkenwert: Demokratien erwachsen nicht aus einem revolutionären Urknall, sondern sind das Ergebnis harter, beständiger, keineswegs immer aufregender Arbeit, und sie bleiben regelmäßig hinter vielfältigen Erwartungen zurück. Für Historiker gilt es daher, in ihre Analysen einen Verfremdungseffekt einzubauen, der erlaubt, Demokraten und ihre Ideen und Praktiken jeweils kontingent zu verstehen. Und schließlich warnt Conway, die 2010er und 2020er Jahre vor Augen, vor voreiligen Abgesängen: "democracy owes its durability not to principles but to its flexibility" (309).
So eingängig die Formulierung, so grundsätzlich ist jedoch jene Frage, auf die Conway nicht eingeht, nämlich welcher Prinzipien sich Demokratie entledigen kann und wieviel Flexibilität sie erträgt. In der fehlenden Diskussion macht sich bemerkbar, dass zentrale Debatten um die Demokratie, etwa von Juristen und Staatswissenschaftlern, kaum berührt werden - man denke etwa an die unmittelbar nach dem Krieg zwischen Franz Böhm und Adolf Arndt ausgetragene Kontroverse in den Seiten der Süddeutschen Juristen-Zeitschrift. Auch ökonomische Perspektiven werden, abseits so knapper wie richtiger Verweise auf die Vulgarisierung (neo-)liberaler Ideen, kaum bemüht. Dabei hätte gerade die oben genannte Flexibilitätsdiagnose dazu eingeladen, ist dies doch eine nachgerade klassisch dem Kapitalismus zugeschriebene Qualität. Verpasste Chancen finden sich auch anderswo, im Großen wie im Kleinen, etwa wenn in einer Seitenbemerkung der schwedische Ökonom Gunnar Adler-Karlsson als Kronzeuge dafür bemüht wird, dass auch Sozialdemokraten ihren Frieden mit marktwirtschaftlicher Wohlstandsmehrung machten. Hier entgeht Conway, dass Adler-Karlsson ein Schüler Gunnar Myrdals und gleichzeitig wichtiger Einflussgeber für den später behandelten André Gorz war und dass sein Konzept des funksjonssosialism für sehr viel mehr Sozialismus in der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik plädierte.
Die unpräzise Einordung ist nicht per se gravierend, resultiert jedoch aus einer konzeptionellen Schieflage: Es ist ein bemerkenswert kleines Westeuropa, das Conway zeichnet. Ohne die ost- und die südeuropäischen Diktaturen ebenso wie die nordischen Länder, und erleichtert auch um das britische Westminster-Modell, bleibt ein Gebilde, das vage an die sechs EWG-Gründer erinnert, wenngleich die Niederlande nur am Rande und Luxemburg gar nicht, dafür aber gelegentlich Österreich erwähnt werden. Zeitgenössische Beobachter von außerhalb dieses Kerns tauchen immer mal wieder auf, doch bleibt die Frage, wieviel Westeuropa eigentlich in dem Buch steckt. Ist die These, dass der Staatsbürger dem "sovereign consumer" wich (301), übertragbar auf andere Länder? Und ist die Überlegung, dass die Ablösung klassischer (Print-)Medien durch Fernsehen und political advertising wesentlich zur Erosion des demokratischen Zeitalters beitrug, nicht doch dem Blick durch eine britische Brille geschuldet? Die Entscheidung, den Ausschnitt so klein zu wählen, überrascht nicht zuletzt deswegen, weil Conway schildert, wie "Europe acquired a new and more exclusive geographical definition; one which was tilted away from the contested landscapes of central Europe that had been so important in European life over the preceding decades, and towards what appeared to be the more peaceful landscapes of western Germany, the Low Countries, northern Italy, and France" (149), ohne indes über die Koinzidenz seiner eigenen Definition zu reflektieren.
Am Ende bleibt daher ein zwiespältiger Lektüreeindruck. Es überzeugt die nüchterne Schilderung eines ebenso nüchternen Demokratisierungsprozesses, der inkrementell und oft inkonsistent war, vor allem aber: nicht selbstverständlich. Zugleich bleiben Fragen sowohl nach dem Generalisierungspotential des Samples als auch nach der hastig vorgetragenen These vom unmaking der Demokratie, mit welcher gesellschaftliche Polarisierungstrends vom Terrorismus der 1970er Jahre über den Aufstieg der Neuen Rechten bis zum wachsenden Wohlstandsgefälle zusammengefasst werden. Und was bedeutet eigentlich die doppelte Metapher, mit der Conway endet, wenn er schreibt, dass Demokratie nicht "the author of its own history, but a means of understanding that wider history" (311) sei? Die Bereitschaft indes, mit der Conway die Komplexität seines Gegenstandes annimmt und in der eigenen Analyse spiegelt, statt sie mittels heroisierender Narrative zu reduzieren, ist vorbildlich. Das lässt vielleicht nicht die Ohren brennen, wie die Stranglers sangen, steht dem Werk jedoch gut zu Gesicht.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Martin Conway: The Accidents of a European Historian, in: H-Diplo, Essay Series on Learning the Scholar's Craft: Reflections of Historians and International Relations Scholars, Essay Nr. 273, 29.09.2020; PDF: hdiplo.org/to/E273 [22.11.2021].
[2] Vgl. Martin Conway: The Rise and Fall of Western Europe's Democratic Age, 1945-1973, in: Contemporary European History 13 (2004), 67-88.
[3] Vgl. Tony Judt: Postwar. A History of Europe since 1945, New York u. a. 2006; Jan-Werner Müller: Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth-Century Europe, New Haven / London 2011.
Kim Christian Priemel