Wolfgang Ayaß / Wilfried Rudloff / Florian Tennstedt: Sozialstaat im Werden. Band 1. Gründungsprozesse und Weichenstellungen im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, 385 S., ISBN 978-3-515-13006-6, EUR 48,00
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Wolfgang Ayaß / Wilfried Rudloff / Florian Tennstedt: Sozialstaat im Werden. Band 2. Schlaglichter auf Grundfragen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, 379 S., ISBN 978-3-515-13007-3, EUR 48,00
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Die 34 Bände der "Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867-1914" (hrsg. von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur) bilden fast ausschließlich die Quellengrundlage der beiden Bände "Sozialstaat im Werden". Die Quellensammlung wurde schon in der Weimarer Republik geplant und erst 2008 abgeschlossen. "In ähnlicher Form" gibt "es für kein zweites Land" eine derartige Quellensammlung zur Frühzeit des Sozialstaates (Bd. 1, 7) 5600 Stücke wurden in dieser Quellensammlung aufgenommen, mit der begreiflichen Folge, dass sie nur von ganz wenigen Historikern in Gänze rezipiert werden können. Und genau hier helfen die beiden Bände weiter. Sie wollen "ein erster Wegweiser" (Bd. 2, 7) sein. Autoren aller Aufsätze sind Wolfgang Ayaß, Wilfried Rudloff und Florian Tennstedt.
Der erste, chronologisch aufgebaute Band stellt "Gründungsprozesse und Weichenstellungen im Deutschen Kaiserreich" dar (Untertitel), wobei auch Ansätze und Entwicklungen vor dem Kaiserreich thematisiert werden. Er behandelt nicht nur den Werdeprozess der Bismarckschen Sozialversicherungen, der Kranken-, Renten- und Unfallversicherung, sondern viel weitergehend so gut wie alle Aspekte staatlicher Sozialpolitik, z.B. sozialpolitische Bestimmungen früher bestehender Gewerbeordnungen, die Verankerung der Koalitionsfreiheit, Unfallschutz am Arbeitsplatz, Kinder- und Jugendschutz, kommunale Wohlfahrtspflege und vieles andere mehr. Die mitunter sehr kontroversen Diskussionen und alternative Konzepte werden ebenfalls dargestellt.
Der Schwerpunkt dieser Rezension liegt auf den acht Aufsätzen des zweiten Bandes mit dem Untertitel "Schlaglichter auf Grundfragen". Er widmet sich übergreifenden Einzelthemen. Derer gäbe es viele. Denn die Quellenedition enthält Material für viele, weitergehende Untersuchungen. Und so ist der Anspruch der Autoren: "Was dabei noch zu erschließen ist, soll der vorliegende Band anhand ausgewählter Themen exemplarisch zeigen." (Bd. 2, 7)
Alle Beiträge wurden akribisch recherchiert. Themen sind: Die Rolle der Ministerialbürokratie in Preußen und im Reich (Tennstedt), die Positionen der Parteien (Ayaß), der vielen Einschränkungen unterliegende Kreis der Versicherten (Ayaß), Finanzierung und die - mitunter geringen - Leistungen der Sozialversicherung (Ayaß), die Entstehung der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit (Ayaß), Betriebe als Orte der Sozialpolitik (Rudloff). In diesem Beitrag geht es um die über die staatlichen Versicherungen hinausgehenden Leistungen der Betriebe, unter anderem um Betriebsrenten und -wohnungen. Sie waren für den einzelnen eine wichtige Ergänzung seiner sozialen Absicherung, aber häufig mit der Absicht der Arbeitgeber verbunden, die Arbeitnehmer an ihren Betrieb zu binden oder gar zu knebeln.
Zwei weitere Aufsätze sollen hier stellvertretend für die anderen behandelt werden. In dem mit 63 Seiten umfangreichsten Einzelbeitrag "Die Entstehung des Sozialstaates und der Aufstieg der Experten: Foren, Formen und Funktionen", analysiert Wilfried Rudloff, wer und aufgrund welcher Position in der Gesellschaft jemand Experte wurde und welche die Mechanismen waren (und bis heute sind), aufgrund derer ein wie auch immer ausgewiesener Experte bei den Entscheidungsträgern gehört wird. Die Fragestellung ist originell und kann nur auf der Basis der vorliegenden Quellenedition beantwortet werden. Das Getriebe des Expertentums, das politisch-soziale Umfeld wird genau untersucht, so dass diese Studie über sozialstaatliche Belange hinausgreift und ein Beispiel für andere Studien zum Expertenwesen liefert.
Gibt es zu diesem Beitrag wegen der originellen Fragestellung relativ wenig Sekundärliteratur, so gilt dies nicht für den Schlussbeitrag des zweiten Bandes "Vorreiter und Nachahmer? Deutschland in der internationalen Sozialpolitik (ebenfalls von Wilfried Rudloff). Die Sozialversicherung in Deutschland, ihre Leistungen und ihre Finanzierung werden mit den Sozialversicherungssystemen anderer Länder verglichen. So wird Deutschland - mit Modifikationen - von Österreich-Ungarn nachgeahmt. Andere Länder entwickeln grundsätzlich andere Sozialversicherungsmodelle, z.B. Frankreich in bewusster Kontrahaltung zum Gegner Deutsches Reich, aber auch England, das staatliche Zwangsversicherungen ablehnt, die so nur in einem obrigkeitlichen System wie dem Deutschen Kaiserreich möglich seien. Zu diesem Thema gibt es wohl die umfangreichste Sekundärliteratur und doch konnte auch dieses um viele neue Aspekte auf der Basis der ausgewerteten Quellenedition ergänzt werden.
Die Autoren haben sich an die große Aufgabe gemacht, den Sozialstaat im Werden chronologisch nahezu vollumfänglich darzustellen und ausgewählte Themen fundiert und über die engeren Belange der Geschichte der deutschen Sozialversicherungen hinaus zu analysieren. Sie mussten dabei notwendig arbeitsteilig vorgehen. Anders wäre die Aufgabe nicht zu bewältigen gewesen. Jedoch scheinen die Beiträge nicht vollständig abgestimmt zu sein. Die Folge sind immer wieder Überlappungen. Nur ein Beispiel, in dem es sogar zu einer leicht vermeidbar gewesenen Unstimmigkeit kommt. Bei Wolfgang Ayaß wurde im Beitrag "Finanzierung und Leistungen der Arbeiterversicherungen" auf der Pariser Weltausstellung 1900 ein 15 Meter hoher, steinerner Obelisk zur Veranschaulichung tatsächlich errichtet. "Die Gesamtleistungen der drei Versicherungen" - d.h. der drei Bismarckschen Sozialversicherungen - "entsprächen 961.000 Kilogramm gemünztem Gold." (Bd. 2, 154). Rudloff berichtet dagegen in seinem Schlussaufsatz, dass der Obelisk wegen Widerstände der Veranstalter nicht zur Ausführung kam und man sich nur mit einer bildlichen Darstellung begnügen musste (Bd. 2, S. 356).
Die Kapitel stehen für sich allein. So fehlt auch ein Sachverzeichnis. Ein Manko, das häufig bei Sammelbänden mit disparaten Themen von mehreren Autoren auftritt. Nur sind die Themen hier nicht disparat und Autoren gibt es nur drei.
Indes: All dies schmälert nicht die gewaltige Leistung aller drei Autoren: Zusammen ist ihnen das Verdienst zuzuschreiben, die im Verlauf von Jahrzehnten herausgegebene, 34 Bände umfassende "Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867-1914" chronologisch mit dem Anspruch auf Vollständigkeit erschlossen (Bd. 1) und zu zentralen Einzelthemen viele Aspekte umgreifende, gründlich recherchierte Studien verfasst zu haben, die ohne Vorliegen der Quellenedition nicht in dieser Detailliertheit hätten geschrieben werden können, und dies unter Einarbeitung von vorhandener und zum Teil recht umfangreicher Sekundärliteratur zu einzelnen Themen. Damit geben die Autoren Standards vor für alle anschließenden Folgeuntersuchungen zu Grundfragen des "Sozialstaats im Werden".
Manfred Hanisch