Maarten De Pourcq / Nathalie de Haan / David Rijser (eds.): Framing Classical Reception Studies (= Metaforms; Vol. 19), Leiden / Boston: Brill 2020, 298 S., 17 Farbabb., ISBN 978-90-04-42701-3, EUR 123,90
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"Reception Studies" stehen seit Längerem im Fokus der Forschung; sie bieten ein weites und fruchtbares Feld, da sie alle Medien und Themen umfassen, was aber auch Abgrenzungen und Fragestellungen bisweilen schwierig macht, wie in dem vorliegenden Band mehrfach dargestellt wird. Grundlegende Monographien waren Lorna Hardwick, Reception Studies (2003) und Charles Martindale, Redeeming the Text: Latin Poetry and the Hermeneutics of Reception (1993), auf dessen Arbeit sich mehrere der zwölf Beiträge im vorliegenden Band beziehen, die an einer Konferenz an der Radboud University in Nijmegen 2013 präsentiert wurden.
Der erste Teil ("Framing Reception") umfasst fünf Aufsätze mit theoretischem Ansatz, der zweite ("Cases, Contexts and Frames") acht Fallstudien. Bereits die Einführung durch die Herausgeber (1-12) wie überhaupt der gesamte erste Teil zeigen, dass schon der Terminus "Rezeption" schwierig zu bestimmen ist, auch die weit gefasste Definition von "Framing" als "influence of concepts, figural speech, methods and other ways of phrasing and mapping, and [...] how we formulate research questions, position our research and address audiences" (7) zeigt eine gewisse Problematik, die sich auch in der Heterogenität der Beiträge bemerkbar macht, die in sehr unterschiedlichem Maße auf die theoretischen Ansätze Bezug nehmen. Daher leuchtet mir auch die Aufteilung nicht völlig ein: Die sehr interessanten Beiträge von Fran Middleton ("Of Mice and Manuscripts: Literary Reception and the Material Text", 70-82), die anhand eines Manuskripts des 10. und der OCT-Ausgabe desselben homerischen Texts des 20. Jahrhunderts vorführt, in welchem Maß Material und Layout die Rezeption eines Textes bestimmen, sowie Edith Hall und Henry Stead ("Approaching Classical Reception through the Frame of Social Class", 83-94) zu den Auswirkungen der britischen Politik auf die Situation der "Classics" im Land könnten auch als Fallstudien fungieren.
Lorna Hardwick ("Aspirations and Mantras in Classical Reception Research: Can There really Be Dialogue between Ancient and Modern?", 15-32), die für ein dialogisches, insbesondere das von Bachtin entwickelte Konzept des Chronotopos (19-27) plädiert, macht gleichzeitig zu Recht darauf aufmerksam, dass kein Modell überall passt (23). Clare L. E. Foster ("Familiarity and Recognition: Towards a New Vocabulary for Classical Reception Studies", 33-69) zeigt die Chancen, die in unterschiedlichen Zugängen liegen. Tradition und Rezeption können als Set von Objekten und Praktiken verstanden werden; mit (Wieder-)Aufführungen und Lektüre antiker Werke werden immer auch Werte vermittelt: Vertrautes verstärkt soziale Normen und wird von diesen wiederum bestärkt. Sie schlägt daher das Konzept von "recognition capital" vor, das sowohl die aktiven Empfänger wie die Frage umfasst, was die inhärente, als solche erkennbare klassische Qualität eines Objektes oder Textes ausmacht.
Drei der sechs durchwegs interessanten Beiträge, die sich mit Antikenrezeption in humanistischem und frühneuzeitlichem Kontext befassen, seien hier hervorgehoben.
Pietro Delcorno, ("Classical Reception in Medieval Preaching: Pyramus und Thisbe in Three Fifteenth-Century Sermons", 97-123) zeigt, wie eine Reihe von klassischen Mythen durch Predigten im Europa des 15. Jahrhunderts eine enorme Verbreitung fanden, in sehr freien Adaptationen mit bisweilen kühnen Interpretationen: Die Protagonisten des ovidischen Mythos wurden zur Allegorie der perfekten Liebe zwischen Christus und der menschlichen Seele, ja sie konnten sogar als Beispiel für "prudence" fungieren (101-107). Musterpredigten und die seit dem 13. Jahrhundert verbreiteten Artes praedicandi zeigen, dass sämtliche Aspekte des antiken Mythos verwendet und jedes Detail als christliches Symbol gedeutet werden konnte. Sowohl die Predigten wie auch dadurch angeregte bildliche Darstellungen machten die fabulae auch einem illiteraten Publikum zugänglich.
Eine beeindruckende Allegorisierung eines antiken Mythos zu politischen Zwecken führt Jeroen Jansen in seinem Beitrag "Innocence Framed: Classical Myth as a Strategic Tool in Jacob Duym's Nassausche Perseus (1606)" vor (153-173): Duym, Kämpfer für die Freiheit Hollands, verfasste sechs Theaterstücke über Episoden des niederländischen Aufstandes gegen die spanische Besatzung (1568-1648). In diesem Beitrag wird exemplarisch die Anwendung von "Framing" durch Stereotypen, Auswahl und Präsentation von mythischen Szenen gezeigt (157-167): Das Seemonster repräsentiert den Herzog von Alba; Perseus (bemerkenswerterweise auf dem Pegasus unterwegs, eine schon im Mittelalter zu findende Verwechslung) ist Willem von Oranje, der Befreier der Niederlande, die in der Gestalt der Andromeda als unschuldiges, wehrloses Opfer dargestellt ist. Im Vorwort wird der Andromeda-Mythos als ewiger Kampf von Gut und Böse erklärt.
Die vielfältigen, oft einander widersprechenden Möglichkeiten der Rezeption und Deutung des (Schicksals) einer Stadt zeigt Susanna de Beer ("Framing Humanist Visions of Rome", 201-226): Die Konstruktion eines Erbes durch humanistische Gelehrte und Dichter mittels Auswahl, Deutung, und Aneignung verschiedener Aspekte diente oft der Schaffung einer Identität (203-206): Der Florentiner Dichter Cristoforo Landino (1425-1498) vergleicht Roms frühere Glorie mit dem jetzigen Ruin; für ihn überdauert allein die Literatur. Dagegen bilden etwa siebzig Jahre später für Janus Vitalis, den Sekretär Leos X., die Ruinen Roms den Hintergrund für die durch das Wirken der Päpste wiederentstandene Größe der Stadt (211-216). Je nach Standpunkt und Perspektive des Schreibenden (der zudem oft noch die Ansprüche eines Patrons berücksichtigen musste) entstehen ganz unterschiedliche Rom-Bilder; so schreibt z.B. Landino vor dem Hintergrund der zunehmenden Rivalität zwischen Florenz und Rom. Die eigene (politische) Legitimierung enthält bisweilen eine negative Evaluation der nicht zu Gruppe gehörenden.
Zwei Aufsätze widmen sich zeitgenössischen Themen: Rodrigo Tadeu Gonçalves und Guilherme Gontijo Flores ("Translation as Classical Reception: 'Transcreative' Rhythmic Translations in Brazil", 227-244) analysieren die Wirkung der Übersetzungen von Homer und griechischer Lyrik auf die Sprache und eigene Lyrik Brasiliens. Keen Vacano ("Breaking Bad as Mirror of Medea: A Case for Comparative Reception", 245-271) zeigt, dass sich grundlegende Konzepte / Chrakteristika der griechischen Tragödie - der "problematische Protagonist" oder Anti-Held und die hamartia, der tragisch gescheiterte Versuch, etwas Gutes bewirken zu wollen - auch in einer populären zeitgenössischen Serie erkennen lassen.
Der Epilog durch den Herausgeber David Rijser ("Nothing to Do with Oedipus? Towards New Roles for Classics", 272-286) fasst die Rolle der "reception studies" zusammen und skizziert Fragen, Herausforderungen und Aufgaben für die Zukunft.
Ein kohärenter theoretischer Rahmen scheint trotz des Anspruchs für die Fallstudien (von denen aus Platzgründen hier nicht alle behandelt wurden) schwer realisierbar. Insgesamt liefert der Band aber einen sehr anregenden Überblick über die neuste Forschung zum Thema; nützlich ist auch der ausführliche kommentierte Abschnitt mit weiterführender Literatur am Ende jedes Beitrags.
Balbina Bäbler