Rainer F. Schmidt: Kaiserdämmerung. Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang, Stuttgart: Klett-Cotta 2021, 878 S., eine Kt., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-608-98318-0, EUR 38,00
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Jedes Jahr bewerben absatzorientierte Verlage aufwendig einige Werke als grundstürzende Neuinterpretationen, oft anlässlich von Jubiläen. 2021 betraf dies 150 Jahre Reichsgründung. Im Rahmen des Gedenkjahres wurde in Publikationen etablierter Professoren eine Revision der Geschichtsschreibung über das Deutsche Kaiserreich in Richtung "Pluralität" propagiert, nämlich "multiperspektivische Darstellung, eine Art Kaleidoskop", "Vielfalt von Methoden, Perspektiven und Erzählweisen", Ambivalenz statt Schwarzmalerei bzw. keine negative Eindeutigkeit im politischen System sowie seit langem die vergleichende Perspektive. [1] Demgegenüber hält eine deutlich jüngere Historikerin die Rhetorik von Ambivalenz und Differenziertheit als uneindeutigen Analyse-Schluss für nicht ausreichend, denn bei methodenbewusster geschichtswissenschaftlicher Betrachtung müssten parallele Einzelprozesse auch gewichtet, zumal "Machthierarchien und Durchsetzungschancen" klar benannt werden. [2]
Internationale Kontexte, Multiperspektive und Ambivalenz reklamiert auch Rainer F. Schmidt, an der Universität Würzburg promoviert, habilitiert und bis 2021 Extraordinarius für neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte, für seine ambitionierte "Neuinterpretation der Geschichte des Wilhelminischen Reiches". (46) Es gehe um "Abkehr von der deutschen Nabelschau" (39), um die "historische 'Schuldfalle' [...] in der sich die Deutschen bis heute befinden" (37), zu überwinden. Schmidt will nachweisen, dass "die anderen Mächte einen Eisernen Ring um das Reich legten". (46) So neu ist seine Darstellung indes nicht.
In drei Kapiteln betrachtet er die inneren und äußeren Entwicklungen ab 1890. Er konstatiert grundsätzlich Doppelgesichtigkeit in der Gesellschaft (107), aber zuvörderst Reallohnanstieg, Sozialversicherung, Arbeiterschutzmaßnahmen; trotz allgemeinem Wahlrecht blieb das Bürgertum ohne entscheidende politische Macht (109), generell staatsnah (235), und unter dem Adel als herrschende Elite (228); Preußen war auch via Bundesrat ein konservativer Sperrriegel (127, 146), die Kanzler wechselten nach Vertrauenskrisen zum Kaiser (133), keine Partei ersehnte die Parlamentarisierung und es gab keine einheitliche Politik des Reichstags gegenüber der Regierung (146f.). Das Militär stand außerhalb konstitutioneller Kontrolle, beanspruchte Vorrang und litt unter (Nicht-)Koordination durch Wilhelm II., anders als in England und Frankreich (149). Die Militärmacht wurde trotz Zabern nicht zivil beschnitten (319-322) und der Kriegsrat vom 8.12.1912 war keine Planung des Hegemonialkrieges, aber belegt die Disposition der Staatsspitzen zum Präventivkrieg (329). Der Schlieffenplan wird als "Vabanquespiel" (521) charakterisiert, das Deutschland zum militärischen Erstschlag zwang. Wilhelminische Führergläubigkeit bilde eine Grundbedingung für den Aufstieg Hitlers (136) und der Radikalnationalismus habe zugenommen, aber die entscheidende Frage sei, warum er gerade in Deutschland um 1933 einen extremen Ausschlag erfuhr (187). Der vergleichsweise moderate wilhelminische Antisemitismus legte dennoch die Wurzeln für das spätere Unheil (216). Schmidt folgt überwiegend bekannten Sichtweisen, verzichtet indes häufig auf genaue Nachweise in seinen Anmerkungen, und erkennt mit Thomas Nipperdey 1914 "eine akute, aber eine stabile Krise". (334)
Störend wirkt, dass Schmidt diverse Akteure in Biogrammen psychopathologisch abwertet: Fürst Gortschakow mit seiner "Kunstfertigkeit in der Paarung" bis zum Tod im Bordell (50), Admiral John Fishers "orientalisches Gepräge" (399), die "kalte Fischnatur" H. H. Asquith (592) oder Matthias Erzberger, angeblich eine "'Spießergestalt'" mit "ausschweifende[m] Lebenswandel". (711) Nur Ludwig Windthorst kommt zu Recht gut weg (153ff.). Tirpitz wird "strategischer Denker und fähiger Organisator" (402) genannt, wiewohl er 1912 die Haldane-Mission obstruierte, die Schmidt verzogen als englische Finte darstellt (463-466).
In der Außenpolitik wird nach 1890 die Aufgabe von Bismarcks Defensive zugunsten einer drohenden Offensive konstatiert. (98, 101) Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags mit Russland gab den "Startschuss zur antagonistischen Blockbildung in Europa" (352) und Bernhard Bülows Agieren ab 1897 sei "desaströs" in die Isolation und die Katastrophe führend gewesen (283). Die Flottenpolitik wird als "Quantensprung" (407), aber die Flottennovellen werden nicht als Hauptgrund für Englands Aufgabe der splendid isolation gesehen (416). Die dafür genannten fünf revisionistischen Autoren geben allerdings auch gegenwärtig kaum den Mainstream der Forschungsmeinung wieder und die Ansicht, dass die Regierungsspitzen in London wider besseres Wissen einen "German bogey" aufbauten, ist keineswegs herrschende Meinung. [3]
Der revisionistische Teil von Schmidts Politikgeschichte besteht vor allem in der Zuweisung von Verantwortlichkeit an das revanchelüsterne Frankreich und das unehrliche "perfide Albion", personifiziert im Konspirationstalent (590) Edward Grey. Erstere These hat bereits 2019 faktenbasierte Zurückweisung erfahren und jüngst scharfe Kritik von Rezensenten am Buch hervorgerufen. [4] Schmidt selbst skizziert mehrere unkluge deutsche aggressive Akte (Krüger-Telegramm, Marokkokrisen, Bosnienfrage) und zitiert Bethmann Hollwegs 1914 gefallenes Wort vom Grundsatzfehler, nämlich "gleichzeitig Türkeipolitik gegen Russland, Marokko gegen Frankreich, Flotte gegen England, alle reizen und sich allen in den Weg stellen". (478) Keiner der Hauptakteure habe deeskalierend gewirkt (494), aber England habe als zentraler Weichensteller (504) agiert und insgesamt sei von "Kriegsprovokation durch Paris und Kriegsauslösung durch Berlin" zu reden (496, 566). Die "Kriegstreiber saßen in St. Petersburg, Paris und London", schreibt Schmidt (544), obwohl er zugibt, dass Berlin im Sommer 1914 alle Vermittlungsversuche rigoros verweigerte, Wien nicht rechtzeitig zurückhielt und fatalistisch zwei Kriegserklärungen ausfertigte. Dass der Revanchegedanke das zentrale Motiv für Frankreichs Außenpolitik nach 1890 war, bezweifelt die Fachliteratur sehr, ebenso die These, Poincaré habe Deutschland in die Falle gelockt. Vielmehr ging es dem wirtschaftlich wie militärisch unterlegenen Frankreich um Sicherheit vor einem befürchteten deutschen Angriff; nur dieser löste den Bündnisfall für Russland aus und erforderte den Schulterschluss mit dem Zarenreich. Erst Berliner Risikopolitik und mentale Kriegsbereitschaft machten via Schlieffenplan aus einer Balkankrise den Großkonflikt. Belege für konkrete französische Kriegsvorbereitung 1913/14 oder Nachweise, dass der "Würgegriff der Entente" sicherlich zu "weiteren Pressionsversuchen" (778, ähnlich 508) geführt hätte, gibt Schmidt nicht. Belgien habe sich deutsche Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung (6500 Opfer) wegen des Guerillakriegs von "völkerrechtswidrig agierenden belgischen Kombattanten" (634) selbst zuzuschreiben, werden Leser aus der Darstellung schließen. Der rezente Forschungsstand ist Schmidt wohl nicht nur wegen des späteren Druckdatums entgangen. [5] Zu Recht erwähnt er allerdings russische Gewaltexzesse in Ostpreußen 1914 (651). Schmidt behandelt Kriegsausbruch und -verlauf 1914-1918 auf rund 300 Seiten und hält den unbeschränkten U-Boot-Krieg, das Ostimperium und die Westoffensive im März 1918 mit vielen Forschern für große Fehler. Dagegen kommen Globalisierung, Kolonialismus oder wilhelminische Frauen- und Reformbewegungen nur knapp vor.
Die zweite Revision rückwärts unternimmt Schmidt mit der Behauptung, Frankreichs Rachedurst, manifestiert im Versailler Vertrag, habe unumkehrbar die Weiche gestellt, die "der Weimarer Republik den Hals umdrehte und einem zweiten, noch grausameren Krieg die Saat ausbrachte". (740, ähnlich 772) Hier lässt er sicherlich zahlreiche intervenierende Faktoren aus - Schmidt selbst hält Ludendorffs Dolchstoßlegende für eine schwere Bürde (760) - und entwirft monokausal jene große Kausalitätslinie, die er bei kaiserzeitlichen Kontinuitäten hin zu 1933 (779-794) diskutiert, aber letztlich ablehnt.
Schmidt wehrt sich am Ende gegen den Vorwurf unkritischer Weichzeichnung der Epoche und verneint jede historische Einbahnstraße zugunsten von Offenheit. Das mag man ihm abnehmen. Mit der Betonung alliierter Kriegsschuld und der Verantwortung von Versailles für Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg wird er aber nolens volens Beifall bei jenen finden, die dieses traditionelle Narrativ der deutschen politischen Rechten teilen. Wissenschaftlich bleibt Schmidts "längst überfällige Neuinterpretation des wilhelminischen Deutschlands" (Klappentext) zumal hinsichtlich der Außenpolitik angreifbar und stellt trotz erheblicher Verkaufszahlen kein Standardwerk dar. [6]
Anmerkungen:
[1] Zitate aus: Christoph Nonn: 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des Deutschen Kaiserreiches 1871-1918, München 2020, 10; Ewald Frie: Rausch und Nation. Neuerscheinungen zum 150-jährigen Jubiläum der Reichsgründung, in: HZ 313 (2021), 695-714, 714; Dominik Geppert: Neuer Nationalismus? Vom deutschen Bedürfnis, das Kaiserreich schwarzzumalen, in: NZZ 3.5.2021; Dieter Langewiesche: Der ruhelose Staat, in: Süddeutsche Zeitung 15.6.2021.
[2] Claudia Gatzka: "Das Kaiserreich" zwischen Geschichtswissenschaft und Public History, in: Merkur, H. 866 (Juli 2021), 5-15, hier 15.
[3] Vgl. Jan Rüger: Revisiting the Anglo-German Antagonism, in: Journal of Modern History 83 (2011), 579-617, bes. 608-614. Auch Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich, Berlin 1999, 275, neigt zum Etikett "Selbstauskreisung".
[4] Robert C. Moore: Die deutsche Legende vom 'aufgezwungenen Verteidigungskrieg' 1914, in: HZ 309 (2019), 606-658; Dieter Langewiesche: Rezension von Rainer F. Schmidt, Kaiserdämmerung, online: www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-98869 und Gerd Krumeich: Raymond Poincaré heißt der große Bösewicht, in: Frankfurter Allgemeine 29.10.2021.
[5] Jakob Müller: Omertà, Goldautos und Schüsse aus dem Hinterhalt. Die Debatte um den angeblichen belgischen Franktireurkrieg 1914 und ihr Echo 2017 bis 2020, in: "Mit Belgien ist das so eine Sache...". Resultate und Perspektiven der Historischen Belgienforschung, hg. von Sebastian Bischoff u.a., Münster 2021, 75-86.
[6] Zu den von Rezensenten monierten Sachfehlern kommen weitere: Das Mirabeau-Zitat geht auf G. H. von Berenhorst zurück (62); Paul Hatzfeldt gehörte nicht zur Generation Bülow (71); Wilhelm II. verbrachte nicht 20% seiner Zeit auf der Jacht Hohenzollern (81); Württembergs Abgeordnetenkammer kannte die Adelsbank nur bis 1906 (131); Caprivis Vater war nicht österreichischer Jurist (256); Hohenfinow liegt nicht an der Elbe (307, 309); die SPD stimmte 1913 der Finanzierung zu, aber nicht der Heeresvorlage (332); Rupprecht war 1900 nicht Kronprinz Bayerns (380); Nikolaus II. war kein Neffe Wilhelms II. (429).
Hartwin Spenkuch