Sarah Frenking: Zwischenfälle im Reichsland. Überschreiten, Polizieren, Nationalisieren der deutsch-französischen Grenze (1887-1914) (= Campus Historische Studien; Bd. 81), Frankfurt/M.: Campus 2021, 442 S., 31 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-51432-1, EUR 49,00
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Nicht das Reichsland Elsass-Lothringen, das staatsrechtlich vier Jahrzehnte lang einen nachgeordneten Rang hatte, sondern die Grenzpolizeistelle Altmünsterol, französisch Montreux-Vieux, im Oberelsass untersucht die vorliegende mikrohistorische Studie minutiös und mit dem Anspruch, die Entwicklung der Grenzsituation im Reichsland repräsentativ zu erfassen. Die bislang nicht erforschte konkrete Umsetzung des border building in der grenzpolizeilichen Arbeit vor Ort vermittelt Aufschlüsse über seine Konstituierung entlang des neuen deutsch-französischen Grenzverlaufs. Dafür nutzte Frenking die Departementsarchive in Colmar, Belfort und Strasbourg, womit sie die Arbeit der deutschen und französischen Grenzpolizeistellen und deren Kommunikation mit der vorgesetzten Behörde erstmals auswerten konnte. Hinzu kommen die Archive des deutschen und des französischen Außenministeriums in Berlin und Paris, in denen die diplomatischen Weiterungen der Grenzzwischenfälle dokumentiert sind. Die Studie, ursprünglich eine historische Dissertation an der Universität Göttingen, gliedert sich in zwei Teile über die materielle Gestaltung der Grenze und über die daraus folgenden Grenzüberschreitungen und deren öffentliche Wahrnehmung.
Vor dem Hintergrund des europäischen Standards der Freizügigkeit ohne Grenzkontrollen gewann der Grenzmarkierungsprozess einen symbolischen Charakter nationaler Bestätigung. Frenking beschreibt detailliert, wie die Sichtbarmachung der Grenze die neue staatsrechtliche Definition des Staates durch sein Staatsgebiet unterstrich. Dessen territoriale Integrität machte Grenzverletzungen zum Problem. Im Zuge wachsender deutsch-französischer Spannungen und in Verbindung mit dem Ausbau der politischen, der Kriminalpolizei und der Zentralpolizeistelle Straßburg nahm die nach französischem Vorbild gebildete Grenzpolizeistelle Altmünsterol 1888 ihren Dienst auf. Übergeordnetes Ziel war die "Germanisierung" des Reichslandes, das der Reichsregierung direkt unterstand. Frenking untersucht drei Grenzpolizeikommissare näher und zeigt ihr geringes Sozialprestige auf. Ein ambitionierter Kommissar gerierte sich als Frankreich-Experte, berichtete seinen Vorgesetzten instruktiv und veröffentlichte Fachschriften zur Weiterentwicklung der Polizeipraxis.
Die Grenze zu Frankreich störte die vielfältigen traditionellen Alltagsbeziehungen zwischen der regionalen Bevölkerung auf beiden Seiten, was Frenking an lokalen Feiern, Prozessionen, an Wirtshausbesuchen Jugendlicher untersucht, aber auch an Schmuggel, grenzüberschreitender Wilderei und Holzdiebstahl. Deutsche Nationalfeiern waren der traditionell ländlichen und proletarischen autochthonen Bevölkerung des Elsass gleichgültig. Die Ordnungsbehörden Grenzpolizei und Feuerwehr beider Seiten unterstützten sich gegenseitig. Soldaten überschritten die Grenzen in Uniform, um Vorgänge auf der anderen Seite zu beobachten. Durch die Zuspitzung ihrer Berichte an die Vorgesetzten produzierten die Grenzpolizeikommissare Fälle, an deren Deeskalation die übergeordneten Behörden interessiert waren.
Die besonderen Bedingungen in der Phase des Passzwangs 1888 bis 1891 schränkten die herkömmliche Freizügigkeit weiter ein. Ausländer, die über Elsass-Lothringen einreisten, mussten sich durch Pässe ausweisen, ausgenommen war lediglich der kleine Grenzverkehr. Für französische Staatsangehörige kam verschärfend die Visumspflicht hinzu, um den unberechtigten Aufenthalt, die Spionage in Deutschland und die Förderung der frankophilen Bewegung in Elsass-Lothringen zu verhindern. In der konkreten Umsetzung vor Ort ermittelt Frenking die soziale Schere von Wohlhabenden, die die Grenze im Allgemeinen problemlos passierten oder ihre Rechte erfolgreich vor Gericht durchsetzten, und den schutzlos der Polizeiwillkür ausgelieferten Unterschichten. Emblematisch wurde die französische "arme Elsässerin", die ihre kranke Mutter im deutschen Elsass nicht besuchen konnte. Der Widerhall in der Presse war geteilt: Populistische und nationalistische Massenblätter emotionalisierten Vorfälle zur nationalen Frage, während liberale und regierungsnahe Zeitungen sowie elsass-lothringische Lokalzeitungen sachlich-knapp berichteten. Reichstagsabgeordnete kritisierten die Willkür der Behörden und mahnten Zivilisation und Humanität an. Als der allgemeine Passzwang im Oktober 1891 aufgehoben wurde, blieb er für einige Personengruppen in Kraft. Bestimmten Personen und Personengruppen wurde die Einreise verweigert, insbesondere "Zigeunern", die dem Passzwang weiter unterlagen. Als eine 60-köpfige Gruppe, die 1908 über Altmünsterol nach Frankreich einreiste, im "Niemandsland" hängen blieb, fehlte der nationalen und regionalen Presse die Empathie.
Deutschland und Frankreich verdächtigten sich gegenseitig der Militärspionage. Da die deutschen Behörden die elsass-lothringische Bevölkerung als national unzuverlässig beargwöhnten, überwachten sie deren Verbindungen mit französischen Staatsbürgern. Auf beiden Seiten der Grenze wurden Spionage-Netzwerke gebildet und Vertrauensleute für Brieftaubentransport aus dem Nachbarstaat über die Grenze ernannt. Ein ambitionierter Grenzpolizeikommissar forschte die Festung Belfort aus und deckte die Organisation der französischen Gegenspionage auf, was dem französischen Spezialkommissariat nicht unbekannt blieb.
Mit militärischen Grenzverletzungen während der jährlichen Manöver gingen beide Seiten sensibel um. So richtete das französische Militär 1913 eine drei Kilometer breite Sperrzone für Militärs an der Grenze ein. 1912 erhielt die deutsche militärische Luftfahrt die Anweisung, jenseits der Grenze keine Fotos zu schießen. Die Kommissare beider Seiten klärten den Zweck des Überflugs. Das Problem wurde durch das deutsch-französische Luftfahrtabkommen 1913 gelöst, wonach für die Grenzüberschreitung in der Luft eine Art Passzwang galt. Noch bis unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs konnten Grenzverletzungen diplomatisch gelöst werden, da beide Seiten an Verständigung und Konfliktvermeidung interessiert waren. Auch deutsche und französische liberale Blätter äußerten sich im Gegensatz zu populistischen Zeitungen moderat.
Insgesamt weist Frenking die Beteiligung vielfältiger Institutionen am border making vom Ministerium bis hinunter zu den Grenzpolizeikommissariaten detailliert nach. An repräsentativen Fällen verdeutlicht sie die komplexen Zugehörigkeitsgefühle im Grenzland, die auch von autoritär strukturierten Polizisten einen sensiblen Umgang erforderten. Die nationale Dimension der Reichsgrenze, die ansonsten mit der Außengrenze der Einzelstaaten zusammenfiel, wurde gerade durch die Grenzpolizeikommissare umgesetzt, deren Aufgabenbereiche aufgrund praktischer Erfahrung räumlich und sachlich erheblich wuchsen. Die Zentralpolizeistelle im Reichsland und ihre Grenzpolizeistellen setzten Maßstäbe für entsprechende Einrichtungen in anderen Grenzgebieten.
Horst Sassin