Rezension über:

David Biale / David Assaf / Benjamin Brown et al.: Hasidism. A New History, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2017, X + 875 S., 60 b/w-ill, ISBN 978-0-691-17515-7, USD 45,00
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Rezension von:
Grażyna Jurewicz
Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft, Universität Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Grażyna Jurewicz: Rezension von: David Biale / David Assaf / Benjamin Brown et al.: Hasidism. A New History, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2017, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 3 [15.03.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/03/36842.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

David Biale / David Assaf / Benjamin Brown et al.: Hasidism

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Das Titelblatt dieses fast 900 Seiten starken Bandes weist neun Autoren aus. Und tatsächlich, ohne einen solchen internationalen Kreis führender Experten auf dem Feld der Chassidismus-Forschung, in dem ideen-, sozialhistorische und soziologische Expertise vereint sind, hätte diese enorme wissenschaftliche Leistung kaum erbracht werden können. Die Studie, die in einem mehrere Jahre andauernden kollaborativen Arbeitsprozess verfasst wurde, behandelt die Geschichte des osteuropäischen Chassidismus von seinen Anfängen bis in die Gegenwart. Da die letzten drei Dekaden ausgesprochen viele neue Erkenntnisse zum Thema "Chassidismus" brachten, wurde eine diese Ergebnisse zusammenführende und in ein neues Erklärungsmuster transformierende Publikation nötig. Der Band Hasidism. A New History erfüllt alle Funktionen einer solchen Publikation. Seine Autoren bilanzieren in synthetisch-analytischer Weise die Forschungsresultate der zurückliegenden 100 Jahre, hinterfragen dabei die immer noch einflussreichen älteren Narrative und zeigen neue Interpretationswege auf.

Der Band hat modellhaften Charakter. Er definiert qua exemplum die höchsten Standards einer interdisziplinären Wissenschaftspraxis, deren in Breite und Tiefe beeindruckendes Ergebnis die multiperspektivische Darstellung eines äußerst komplexen sozialen Phänomens ist. Die Autoren erzählen, wissenschaftlich höchst fundiert und trotzdem allgemeinverständlich, die faszinierende Geschichte einer der zentralen religiösen Bewegungen in der Geschichte Europas. Es handelt sich um eine Geschichte, die nicht nur den Chassidismus zum Gegenstand hat, sondern deren Kenntnis auch essenziell zu unserem Verständnis der Modernisierungsprozesse und des interreligiösen Erbes des europäischen Kontinentes beiträgt und die es erlaubt, interkulturelle Kontaktzonen zu erschließen - dieses an einem höchst lehrreichen Beispiel, von dem die historische Ost- und Mitteleuropa-Forschung grundlegend lernen kann.

Der Chassidismus, der im 18. Jahrhundert in den Grenzen des Unionstaates Polen-Litauen entstand, hatte seine Wurzeln in älteren jüdischen Frömmigkeitstraditionen. Diese religiöse Erneuerungsbewegung innerhalb des Judentums, deren Gründer gemäß der innerchassidischen Historiografie der Amulettenschreiber und Heiler Israel ben Eliezer (um 1700-1760) sein soll, schöpfte aus dem reichen mystischen Ideenbestand des Judentums. Baal Schem Tov (hebr. für "Herr des guten Namens"), wie der legendäre Vater des Chassidismus genannt wurde, versammelte in Międzybóż (Podolien) einen elitären Zirkel von Gleichgesinnten um sich, aus dem sich die zweite und dritte Generation der chassidischen Meister rekrutierte.

Mit der Verbreitung des Chassidismus in weiten Teilen Ost-, Mittel- und Südosteuropas entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts eines der zentralen Massenphänomene, welches die osteuropäisch-jüdische Lebenswelt entscheidend prägte. Diese Prägung umfasste solch unterschiedliche Elemente wie: das religiöse Ideal der Freude; ein ekstatisches Erlebnisprofil, das sich in eigenen Tanz- und Gesangspraktiken äußerte; einen neuen Typus der religiösen Führung in Gestalt des Zaddiks als Vermittler zwischen der himmlischen Sphäre und den alltäglichen und spirituellen Sorgen der Chassidim und schließlich den zwischen dem Hof des Zaddiks, dem jüdisch geprägten Marktstädtchen (Schtetl) und dem Gebetshaus (Schtibl) aufgespannten Raum, in dem sich das Leben des durchschnittlichen Chassids abspielte. Mit der Schoah schien das Ende dieser Welt besiegelt zu sein. Die Ermordung des Großteils der chassidischen Gemeinschaft und die weitestgehende Zerstörung der materiellen und sozialen Infrastruktur der Bewegung ließen keine Hoffnung auf einen Neuanfang zu. Doch wider jede Wahrscheinlichkeit formierte sich der Chassidismus nach 1945 in Israel und in den USA neu; seine Wiederbelebung nach der Tragödie des Zweiten Weltkriegs führte zu einer zweiten unerwarteten Blüte der Bewegung.

Der vorliegende Band, in dem diese hier in wenigen Sätzen umrissene Geschichte - wo es möglich ist - bis in unsere Gegenwart verfolgt wird, ist in vielerlei Hinsicht das Ergebnis einer kritischen Auseinandersetzung seiner Autoren mit der Arbeit des russisch-jüdischen Historikers Simon Dubnow (1860-1941). Anfang der 1930er Jahre publizierte Dubnow in Hebräisch und Deutsch seine zweibändige Geschichte des Chassidismus, die bis zum Erscheinen der hier besprochenen Studie die einzige großangelegte historiografische Synthese des Chassidismus blieb. Das Narrativ, das von Dubnow und anderen Historikern wie Ben-Zion Dinur (1884-1973) und Raphael Mahler (1899-1977) begründet wurde, sowie die Versuche Gershom Scholems (1897-1982) und Martin Bubers (1878-1965), die spirituellen und intellektuellen Gehalte des Chassidismus zu erschließen, weisen die Autoren für ihre Darstellung als "the crucial backdrop" aus, "crucial because the counter-narrative that we will present challenges many of its assumptions and conclusions". (6) Die Art und Weise, wie die Autoren die älteren Interpretationen herausfordern, begründet die im Titel des Buches programmatisch formulierte Spezifizierung der eigenen Erzählung als "new".

Aus mehreren Gründen erscheint das Attribut "neu" in Bezug auf diese Arbeit legitim. Zum einen vollziehen die Autoren innerhalb der wissenschaftlichen Erschließung des Chassidismus die kulturwissenschaftliche Wende, indem sie die in der Forschung immer noch aktuelle elitäre Fokussierung auf einzelne chassidische Meister und ihre Gedankenwelten hinter sich lassen, um in einem Balanceakt zwischen ideengeschichtlicher und soziologischer Perspektivierung die sozialen, ökonomischen, demografischen, geografischen, institutionellen und ideellen Aspekte des chassidischen Lebens anhand eines erweiterten Quellenkorpus zu beleuchten. Dabei werden nicht nur die einzelnen chassidischen Meister und die von ihnen etablierten Varianten des Chassidismus dargestellt, sondern auch das chassidische Ethos, die Rituale und die sozialen Institutionen, in deren Wirkungsbereich sich das Leben eines durchschnittlichen Chassids abspielte, sowie seine Beziehungen zu anderen Juden und zu Nicht-Juden.

Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen diesem Band und den teilweise immer noch geteilten Sichtweisen aus der klassischen Phase der Erforschung des Chassidismus ist eine Neueinschätzung der chassidischen Chronologie. Im Gegensatz zu Dubnow, demzufolge die Geschichte des Chassidismus nach der dritten Generation der chassidischen Meister einen allmählichen Niedergang der "ursprünglichen Ideen" der Bewegung darstellte, definieren die Autoren die Periode von 1815 bis 1914 als "Golden Age" des Chassidismus. In dieser Zeit, wie sie überzeugend darlegen, verwandelte sich das zu Beginn randständige, mystisch-elitäre Phänomen in eine Massenbewegung. Auch wenn sich diese Transformation bereits im 18. Jahrhundert abzeichnete, erlebte der Chassidismus gerade im darauffolgenden Jahrhundert ein enormes demografisches Wachstum und verbreitete sich explosionsartig in weiten Teilen des europäischen Kontinentes. "Almost everything one associates with classic forms of Hasidism came to maturity in that century: courts with all their rituals and cultural expressions, the tsaddikim and their various forms of leadership, different types of dynastic inheritance, the diversification of Hasidic ethos and teaching, extension of geographical boundaries, new genres of Hasidic literature, and new modes of political engagement". (259)

Ein weiterer für die Darstellung des Chassidismus gleichsam entscheidender Punkt ist die Frage nach seinen Ursachen. Die Autoren widersprechen der einflussreichen Annahme, nach der die Bewegung aus einer unterschiedlich definierten Krise des damaligen osteuropäischen Judentums resultierte - eine These, die sich in erster Linie auf zwei Ereignisse aus dem 17. Jahrhundert bezieht: die Zerstörung der jüdischen Gemeinden während des Kosakenaufstands unter Bohdan Chmel'nyc'kyj (1595-1657) und die messianische Bewegung um den falschen Messias Schabbatai Zwi (1626-1676), fortgesetzt durch seine Nachfolger im 18. Jahrhundert. Entgegen den Versuchen, den Chassidismus als ein Krisenphänomen verständlich zu machen, sehen die Autoren darin "a product and a form of modernity, both as a movement of opposition to the secular world and as a religious and social phenomenon never seen before in Jewish history". (261) Im Prozess des Antwortens auf seine Gegner entwickelte sich der Chassidismus zu einem "bulwark against modernity, a force of conservatism" (ebenda). Dieser Antimodernismus müsse selbst, so die Pointe, als modern verstanden werden: "[S]tarting in the nineteenth century and continuing to today, Hasidism's very identity is wrapped up in its struggle against modern, secular culture and derives much of its identity from that struggle. It is this dialectical entanglement with its secular opponent that defines Hasidism as a modern movement. We might say that Hasidism throughout its two-and-a-half-century history represents a case of 'modernization without secularization'". (11)

In ihrer umfassenden Kulturgeschichte des Chassidismus verabschieden sich die Autoren von der Vorstellung, es gäbe eine Grundidee dieses Phänomens, die für alle seine Varianten in gleicher Weise gälte. Wie sie ausführen, vereinte und vereint der Chassidismus unterschiedliche, teilweise kontradiktorische Elemente, etwa die Idee der absoluten Immanenz Gottes neben der Betonung der göttlichen Transzendenz, die Gesetzestreue neben antinomischen Impulsen, asketische und antiasketische wie messianische und antimessianische Tendenzen. "Not one, but the full range of these ideas must count as constituting Hasidism". (6) In dieser antiessenzialistischen Perspektive liegt das große Verdienst der Arbeit, weil sie damit den Blick auf die diverse und höchst plurale "Natur" des Chassidismus freigibt.

Hasidism. A New History gehört zu jenen Publikationen, die nicht nur die Spezialforschung innerhalb eines partikularen Bereichs vorantreibt, sondern diesen Bereich erst für andere Disziplinen aufschließt, indem sie seine Relevanz für umfassende Fragestellungen deutlich macht. Aus diesem Grund ist die Lektüre nicht nur denjenigen mit Nachdruck zu empfehlen, die das Judentum erforschen. Für synchrones und diachrones Verständnis der modernen Geschichte Ost- und Mitteleuropas ist das Thema des Chassidismus essenziell. So kann man nur hoffen, dass dieses Buch möglichst viele Leserinnen und Leser auch außerhalb des Faches "Jüdische Geschichte" findet. Man wünscht sich, dass keine historische Forschungspraxis zum ost- und mitteleuropäischen Raum künftig hinter die methodologische Sensibilität und den Wissensstand zurückfällt, die in diesem Band umgesetzt und erarbeitet wurden.

Grażyna Jurewicz