Sven Reichardt (Hg.): Die Misstrauensgemeinschaft der "Querdenker". Die Corona-Proteste aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive, Frankfurt/M.: Campus 2021, 323 S., ISBN 978-3-593-51458-1, EUR 29,95
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Es ist außerordentlich wichtig, eingangs festzuhalten, dass das zu besprechende Buch verfasst wurde, bevor sich ein wesentlicher Teil der Gegner der deutschen (letztlich der westeuropäischen) Corona-Politik radikalisiert hat. Die jüngsten Eskalationen haben den Band jedoch keineswegs überholt; sie machen vielmehr auf die grundsätzliche Offenheit historischer Prozesse aufmerksam. Der Erkenntnisstand des Sammelbandes reflektiert die "Querdenker"-Proteste bis zu den Kundgebungen am Bodensee im Oktober 2020, nicht aber das spätere "Kapern" der Bewegung durch Rechtsextremisten. Deshalb steht das Buch im Kontext der Forschungen zu sozialen Bewegungen und nicht zum (Rechts-)Extremismus.
Der Sammelband ist das Ergebnis einer Kooperation Konstanzer Kultur- und Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, die sich mit besagten Kundgebungen befasst haben und später die Zusammenarbeit mit einer Dresdner Forschungsgruppe suchten. Die Beiträge analysieren aus der Perspektive unterschiedlicher Fächer empirisch die Akteurinnen und Akteure, Ideen, Praktiken und die technischen Hilfsmittel - Handys, Plattformen, Kanäle - der Proteste gegen die Corona-Politik. Sie sind in ihrer Ausführlichkeit angenehm nicht-kurzatmig, was den Band von vergleichbaren Publikationen, die sich aktuellen politisch-sozialen Phänomenen widmen, deutlich unterscheidet.
Den konzeptionellen Rahmen des Bandes bildet das Begreifen der "Querdenker" als soziale Bewegung, das heißt "als netzwerkartig aufgebaute Handlungszusammenhänge, die eine gewisse Dauer aufweisen, auf ein gemeinsames Ziel hin orientiert sind und politische Veränderungen mittels öffentlicher Proteste und anderer Aktionen herbeizuführen versuchen" (11). Vor allem auf drei Problemzusammenhänge richtet sich das Interesse der Autorinnen und Autoren: Auf die soziale Zusammensetzung der Gruppe angesichts der Breite der "Querdenker"-Bewegung, auf die Bedeutung der digitalen Vernetzung, deren Möglichkeiten früheren Bewegungen nicht zur Verfügung standen, sowie auf das Misstrauen der "Querdenker" gegenüber den etablierten Produzenten, Vermittlern, Institutionen und Verfahren wissenschaftlich generierten Wissens. Die empirische Grundlage mehrerer Beiträge besteht in Befragungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Konstanzer Protesten, die keineswegs so ablehnend auf die Interviewenden reagierten, wie es nach den Pegida-Demonstrationen, aber auch angesichts der "Spaziergänge" 2021/2022 zu vermuten gewesen wäre.
In wissensgeschichtlicher Perspektive steht zweifellos der Beitrag von Johannes Pantenburg, Sven Reichardt und Benedikt Sepp im Zentrum des Interesses - ohne die Qualität der anderen Aufsätze zu schmälern. Die Autoren konstruieren die "Wissensparallelwelten" der "Querdenker", indem sie deren Selbstermächtigung durch "Gegenwissen" in den Vordergrund stellen: "Trotz ihrer politischen Heterogenität sind die unterschiedlichen Protestgruppen in einem fundamentalen Misstrauen gegenüber medialen, politischen und wissenschaftlichen Autoritäten geeint. In dieser 'Misstrauensgemeinschaft' kursiert ein 'Gegenwissen'" (31), das auf dem anscheinend gesunden Menschenverstand sowie auf eigenen (Internet-)Recherchen beruht, deren Validität gerade nicht nach wissenschaftlicher Verfahrensrationalität, sondern nach Meinungskriterien beurteilt und das von bewegungseigenen Gegenexpertinnen und -experten autorisiert wird. Worin aber besteht die soziale Funktion dieses Gegenwissens und dieser Selbstermächtigung? Die Autoren sehen diese in einer Aufwertung der eigenen Person, weil die Wissensselbstermächtigung als kritisches Subjekt den vermeintlichen Status von Aufgeklärtheit, Avantgarde und Überlegenheit gegenüber der dumpfen Mehrheit verleiht. Außerdem scheint in den zurückliegenden Jahrzehnten angesichts der als Übermacht empfundenen Bedeutung wissenschaftlichen Wissens ein Bedürfnis nach einem enthierarchisierten, selbst erarbeiteten und anscheinend autonom praktizierten Wissen zur Stabilisierung der eigenen Deutungsmacht entstanden zu sein. Insgesamt machen die Autoren drei Argumente aus, die die Gegner der Corona-Politik auf die Straße treiben: erstens die Relativierung der Gefährlichkeit der Pandemie; zweitens der Verweis auf die vermeintlichen Gefahren der Gegenmaßnahmen; drittens die Warnung vor dem Abrutschen in autoritäre Verhältnisse durch die Einschränkung von Grundrechten. Deutlich machen Pantenburg, Reichardt und Sepp jedoch auch, dass "der Generalverdacht gegen Politik, Wissenschaft und Medien die 'Querdenker' dabei Zugzwängen [unterwirft], die mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Radikalisierungsdynamik münden" (44).
Gewissermaßen komplementär zu diesen Befunden rekonstruiert Sebastian Koos die Zusammensetzung der "Misstrauensgemeinschaft". Bemerkenswerterweise machte sich nur eine Minderheit der Protestierenden Sorgen um die eigene wirtschaftliche Zukunft, erlebte aber die Einschränkungen als bedrohlich und blickte pessimistisch in die Zukunft. Gegenüber Politik und Medien (vor allem den öffentlich-rechtlichen) verbindet sie ein tiefes Misstrauen. Im Durchschnitt waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Proteste knapp 50 Jahre alt und überdurchschnittlich gebildet, wobei Selbständige und Angestellte überrepräsentiert sind. Mit anderen Worten: Die südwestdeutschen Corona-Proteste des Jahres 2020 waren ein Mittelschichtsphänomen. Im Gegensatz zu den PEGIDA-Demonstrationen nahmen hier fast zu gleichen Teilen Männer und Frauen teil, und die Sympathien für rechte Parteien waren keinesfalls so ausgeprägt.
Auf die zahlreichen Unterschiede zwischen der südwestdeutschen und der ostdeutschen Corona-Protestbewegung, besonders aber auf Unterschiede zwischen der Corona-Pandemie und der sog. Spanischen Grippe 1918-1923, machen Isabelle-Christine Panreck und ihre vier Mitautorinnen und -autoren aufmerksam. Vor allem dominierte einerseits in allen politischen Lagern nach dem Ersten Weltkrieg angesichts der Kumulation innerer Krisen ein Freund-Feind-Denken, das gegenwärtig nur bei Teilen der Gegner der Corona-Politik anzutreffen ist, andererseits dominierte nach 1918 das gesundheitspolitische Feld bei weitem nicht so sehr das Geschehen wie heute.
Der Bedeutung digitaler Netzwerke widmen sich die Beiträge von Boris Holzer und Isabell Otto. Holzer verdeutlicht die Ambivalenzen und die Gerichtetheit der Protestkommunikation der "Querdenker" in den einschlägigen Telegram-Kanälen. Vergemeinschaftung findet dort durch Abweichung vom "Mainstream" statt. Auch Otto schließt sich in ihrer Untersuchung von Smartphone-Gemeinschaften der Erklärungsfigur des Vernetzens im Misstrauen an. Dabei macht sie auch auf die Fluidität der Accounts wie der Themen, auf die Unüberschaubarkeit und die Vielstimmigkeit als Konsequenz der Teilhabe in digital vernetzten Medien aufmerksam.
Die Rhetorik der Vergemeinschaftung von "Querdenkern" untersuchen Clemens Eisenmann, Sebastian Koch und Christian Meyer. Auch sie registrieren die beginnende Radikalisierung der Bewegung und lokalisieren deren Ursachen in der Auseinandersetzung mit Fremdzuschreibungen seitens Politik und Öffentlichkeit, die sowohl in larmoyante Opferrollen wie in Widerstandsgeist münden können. Das Erlebnis der Vergemeinschaftung durch emotionale und körperliche Beteiligung erzeugte bei den Demonstrierenden eine moralisch positive Selbstwahrnehmung des Protests als Liebes- und Friedensfest und führte gleichzeitig zur Skandalisierung angeblich unhaltbarer Zustände.
Sandrine Gukelberger, Sebastian Koch und Christian Meyer haben visuelle und textliche Quellen ausgewertet, um die "Semiotiken des Verdachts" zu erhellen (225). Man müsste vielleicht von "Semiotiken der Täuschung" sprechen, eingedenk der im Buch abgebildeten, als Polizeifahrzeuge getarnten Autos der Querdenker oder deren Aneignung von Symbolen der Friedensbewegung. Auch dieser Beitrag macht Radikalisierungsprozesse in der Bewegung aus. Aufgrund der geringen Ansprüche an ihre weltanschauliche Konsistenz ist die Querdenker-Bewegung nämlich in der Lage, sehr unterschiedliche Positionen aufzunehmen, ohne einer Radikalisierung Grenzen setzen zu können.
Etwas sperrig liest sich der Beitrag von Christian Meier zu Verl, Sebastian Koch und Christian Meyer über die räumlich-körperlichen Interaktionen zwischen den Protestierenden. Hier wird versucht, die Verbreitung von Verschwörungstheorien "vor Ort" und zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Proteste nachzuzeichnen.
Abschließend suchen Sebastian Koos und Nicolas Binder nach den Unterstützenden der Corona-Proteste in Deutschland. Diese sind ihrer Untersuchung zufolge eher männlich, jüngeren oder mittleren Alters, und eher in Ost- als in Westdeutschland ansässig. Das mit Abstand größte Verständnis für die Proteste findet sich bei AfD-Wählern. Koos und Binder unternehmen auch den stärksten Versuch, die Corona-Proteste beziehungsweise die Querdenker-Bewegung in den jüngsten politischen und sozialen (wenn auch nicht zeithistorischen) Kontext einzubetten, indem sie nach Gemeinsamkeiten mit dem Populismus - konkret PEGIDA und AfD - suchen. Hier jedoch muss der Rezensent Skepsis anmelden. Zwar sind Misstrauen gegenüber politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten konstitutiv für die Querdenker, genauso wie die Mobilisierung bestimmter Emotionen. Aber der kategorische Bezug auf das Volk, die Propaganda für Plebiszite und die Verkörperung der Bewegung in einer charismatischen Führerfigur, einem "homme peuple" (Pierre Rosanvallon), fehlen den südwestdeutschen Protesten ebenso wie andere typische Merkmale des Populismus, etwa die Verteidigung eines "heartland" (Paul Taggart) oder ein robust vorgeführter politischer Stil (Benjamin Moffitt). [1]
Eine zeithistorische Verortung der Querdenker-Bewegung in die jüngere Demokratiegeschichte steht damit noch aus. Auch wäre ein zusätzlicher Beitrag über die Bedeutung der profitorientierten Lenkung der Proteste durch politische Unternehmer wie Michael Ballweg oder durch die einschlägigen Busunternehmen, die Teile der Logistik für die Demonstrationen gewährleisteten, sicher aufschlussreich gewesen. Doch dem steht gegenüber, dass der Band unverzichtbare Studien über das inhärente Radikalisierungspotenzial der Bewegung, über ihre Zusammensetzung, ihre Motive und ihre (Binnen-)Vernetzung enthält. In einer weiteren Perspektive lenkt er den Blick auf die Ambivalenzen zwischen den Ansprüchen weiter Bevölkerungsgruppen nicht nur auf politische, sondern auch auf kulturelle beziehungsweise wissensgesellschaftliche Teilhabe einerseits und den Schwierigkeiten, diese Ansprüche in demokratische Bahnen zu lenken. Offensichtlich fehlt den Querdenkern das Vertrauen und die Bereitschaft der jeweiligen Eliten, ihren Ansprüchen demokratisch und rechtstaatlich Rechnung zu tragen. Mit diesen Befunden leistet der Band einen hervorragenden Beitrag zum Verständnis der Gegenwart.
Anmerkung:
[1] Pierre Rosanvallon: Das Jahrhundert des Populismus. Geschichte - Theorie - Kritik, Hamburg 2020; Paul Taggart: Populism, Buckingham / Philadelphia 2000; Benjamin Moffitt: The Global Rise of Populism. Performance, Political Style and Representation, Stanford 2016.
Morten Reitmayer