Anja Tack: Riss im Bild. Kunst und Künstler aus der DDR und die deutsche Vereinigung (= Visual History: Bilder und Bildpraxen in der Geschichte; Bd. 8), Göttingen: Wallstein 2021, 541 S., 25 Farbabb., ISBN 978-3-8353-3910-1, EUR 54,00
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Dies ist ein in mehrfacher Hinsicht erstaunliches Werk, das 2019 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigt wurde: Als wissenschaftliches Erstlingswerk ist es ungewöhnlich umfangreich, thematisch tiefschürfend, zeitlich begrenzt auf die letzten Jahre der DDR, die Wochen und Monate der Wende und die ersten Jahre des vereinigten Deutschlands.
In der längeren Einleitung behandelt Anja Tack ihren Gegenstand (die Produktion von Kunst in den ost- und westdeutschen Wahrnehmungen), die Methodik (die Historische Diskursanalyse nach Michel Foucault und Achim Landwehr), die Quellen (deutsche Archive, Ausstellungskataloge, zeitgenössische Zeitungs- und Zeitschriftenartikel) und die umfangreiche zeit- und kunsthistorische Literatur. Im ersten Teil ("Kunst in der DDR aus ost- und westdeutscher Perspektive im geteilten Deutschland") geht die Verfasserin - z. T. zeitlich weit zurückgreifend - auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen der "DDR-Kunst" ein. Dabei scheinen das "Erbe" des nationalsozialistischen Staates, dessen unterschiedliche Aufarbeitung in Westdeutschland und im "antifaschistisch" angelegten Ostdeutschland immer wieder durch. Im zweiten Teil ("Ankunft im Westen: Ostdeutsche Künstler im Vereinigungsprozess") schildert sie die Situation für die Kunst und die Künstler, vor allem wie sich Anspruch und Wirklichkeit der Kunst und ihrer Schöpfer in der DDR verhielten, als der SED-Staat 1989/1990 kollabiert war. Der besonders umfangreiche dritte Teil ("Im Widerstreit der Wirklichkeiten: Westdeutsche Reaktionen") gilt den Wahrnehmungen und Erwartungen westdeutscher Künstler und Publizisten gegenüber den in Ostdeutschland Schaffenden. In dieser kritischen Vereinigungszeit zeichneten sich einerseits die Folgen des "Sieges" des marktwirtschaftlichen Systems der Bundesrepublik ab. Andererseits wurden die ostdeutschen Künstler in der ästhetischen und materiellen Diskussion um abstrakte und realistische/figurative Kunst durch die Stasi-Problematik in die Defensive gedrängt. In einem längeren Exkurs versucht die Verfasserin, die Entwicklungen bei dem polnischen, kulturpolitisch häufig liberaleren Nachbarn mit denen des ostdeutschen Teilstaates zu vergleichen. Die 25 farbigen Abbildungen von Bildern und Zeitschriftenaufsätzen, die in der DDR und in Polen zwischen 1948 und 1991 erschienen sind, dokumentieren den sozialistischen Realismus und die figurative Kunst in der DDR sowie den in Polen umstrittenen "Sozrealismus".
Das Werk legt seinen Fokus auf das Jahr 1990. Es nimmt seinen Ausgangspunkt von den polemischen Äußerungen des westdeutschen Künstlers Georg Baselitz, der bereits 1958 als Zwanzigjähriger die DDR verlassen hatte. Er löste - nach dem Ende des Kalten Krieges zwischen Ost und West - den deutsch-deutschen Bilderstreit aus, als er pauschal die Künstler in der DDR und ihre Werke verdammte: "Keine Künstler, keine Maler. Keiner von denen hat je ein Bild gemalt. ... Die Künstler sind zu Propagandisten der Ideologie verkommen" (10). Dabei spielte nach der Verfasserin die Wahrnehmung eine Rolle, dass die bildenden Künstler in der DDR "keine herausragende, treibende Kraft im Umbruchsgeschehen 1989/90" waren (26).
Zu den bis 1990 dominanten, von der SED bestimmten Institutionen gehörte der 1950 bzw. 1952 gegründete Verband Bildender Künstler der DDR (VBK), der 1990 etwa 6.000 Mitglieder zählte. Seit 1945 gab es bereits den antifaschistisch orientierten Kulturbund mit vielen Galerien. Sie gehörten ebenso zu dem Fördersystem wie der Staatliche Kunsthandel, der, 1974 gegründet, eigene Galerien betrieb. Daneben waren es staatliche, genossenschaftliche und Einrichtungen von Firmen, die den Künstlern durch Aufträge und Stipendien materielle Förderung zukommen ließen. Parallel und alternativ dazu entstanden Künstlergruppen in ruinösen Häusern in Ost-Berlin, Leipzig, Dresden und Halle. Abgesehen von dem Missmut über das proletarische Projekt des "Bitterfelder Weges" war es die kulturpolitische Einengung durch das Regime, die - nach anfänglicher "Tauwetter"-Liberalisierung unter Erich Honecker - seit den 1970er Jahren zu einer Spaltung der Künstlerschaft in der DDR führte. Hier gab es die ästhetisch und politisch konformen, dort die mehr oder minder divergierenden Künstler. Dies führte zu massiven Auswanderungen, insbesondere im Zusammenhang mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahre 1976.
"Die" Kunst aus der DDR gewann durch konforme Gruppen wie die sogenannte "Leipziger Schule" mit Willi Sitte (VBK-Vorsitzenden 1974-1988), Bernhard Heisig, Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer auch im westlichen Ausland Ansehen durch ihre bedeutenden figurativen Werke (z.B. Tübkes kolossales Bauernkriegs-Panorama in Bad Frankenhausen). Diese "Leipziger Vier" nennt die Verfasserin denn auch als Beispiel für die "Verstetigung" (230) einer Fehlwahrnehmung, die "die" Kunst in der DDR durch westdeutsche Stimmen erfuhr. Während deren Werke schon vor der Wende im Ausland materielle Anerkennung erfahren hatten, erlebten insbesondere jene ostdeutschen Künstler, die nicht im VBK gewesen waren, nach 1990 noch weniger Beachtung. Die erhoffte "Gerechtigkeit" blieb aus und trug zu deren Verbitterung bei. Andere hatten rechtzeitig Kontakte zu westdeutschen Mäzenen und Galerien hergestellt, die sich nun auszahlten. Dafür standen z.B. der Kölner Industrielle Peter Ludwig und Arend Oetker, der Vorsitzende des Kulturkreises des Bundesverbandes der Deutschen Industrie.
Bei den ostdeutschen Künstlern wurde im Vereinigungsprozess, als mit der allgemeinen Orientierung am Markt eine weitgehende Verunsicherung Platz griff, der Ruf nach einem Kulturpflichtgesetz laut. Die Volkskammer verabschiedete es noch März 1990. Es sollte ihre Kunst und ihre Werte, aber auch das materielle Auskommen sichern. Die eigentliche Sprachlosigkeit der Ostdeutschen in diesem Diskurs wurde noch verstärkt und ihre Positionen bei der Verteidigung figurativer Kunst gegenüber abstrakter Kunst geschwächt, als 1991 Sascha Anderson, eine Leitfigur der literarischen Szene des Prenzlauer Berges, als ehemaliger Informeller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit von Wolf Biermann entlarvt wurde. Nun gerieten auch die ostdeutschen Künstler unter den "Generalverdacht" (348), für die Stasi gearbeitet zu haben. Von westdeutscher Seite wurde in den Medien gefordert, die ostdeutschen Künstler - oft als Vertreter einer "Staatskunst" bezeichnet - sollten "Selbstreflexion", "eine Reorganisation der kognitiven politischen Einstellung" (296) betreiben, schlicht ihre ostdeutschen Biografien delegitimieren. Obendrein wurde den ostdeutschen Künstlern im Zusammenhang mit der Äußerung Georg Baselitz' vorgeworfen, "Konsenssehnsucht" als Zeichen "mangelnder Demokratieerfahrung" (321) zu praktizieren. Es gab in diesem heftigen Streit um "Freiheit der Kunst" und Bindung des Künstlers aber auch besonnenere westdeutsche Stimmen wie die von Wieland Schmied, dem Präsidenten der Münchener Kunstakademie. Für ihn war "das moralische Verhalten oder die politische Haltung der Künstler für die Bewertung ihrer Kunst 'völlig belanglos' (332). Die Ironie des Schicksals war: Dieser sogenannte "Bilderstreit", von Tack als "Stellvertreterkrieg" (330) bezeichnet, erregte zunehmend allgemeine Aufmerksamkeit, und diese wiederum erhöhte den Marktwert von ostdeutschen Werken.
Bei der Darstellung der unterschiedlichen Wahrnehmungen lässt die Verfasserin die argumentativen Schwächen der ostdeutschen Künstler sichtbar werden. Sie konstatiert letztlich eine "westdeutsche Überschichtung Ostdeutschlands" mit der Dominanz kultureller und politischer Werte, eine starke Position, die westdeutsche Akteure "sich selbst zuschrieben und die durch die politischen Entscheidungen im Vereinigungsprozess bestätigt wurde" (229). Der Rezensent, der nach 1991 in Leipzig das ökonomische und kulturelle Geschehen beobachten konnte, nennt diese westdeutschen Verhaltens- und Denkweisen schlicht die Arroganz des ökonomischen "Siegers". Die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieser Arroganz sind noch heute zu besichtigen.
Anja Tack hat ein bemerkenswertes, gut belegtes Werk vorgelegt, durch das sich wohl jeder Leser richtig durcharbeiten muss. Dabei ist es streckenweise regelrecht spannend. Es mag in der Natur der historischen Diskursanalyse liegen, dass der Leser den Eindruck von Weitschweifigkeit und Wiederholungen gewinnt. Dieser Eindruck wird durch wiederholte Verweisungen in den Anmerkungen in der zweiten Hälfte des Werkes (z.B. 286, 310, 333, 339), aber auch durch minutiöse Schilderungen von Künstlerbiografien und den parallellaufenden politischen Ereignissen verstärkt. Das umfangreiche Literaturverzeichnis liest sich wie deutsche Zeitgeschichte im Schnelldurchgang. Der Personenindex führt zuverlässig zu einer hohen Zahl von Künstlern (ost- und westdeutscher Prägung).
Zwei äußere Mängel dieses wichtigen Werkes müssen kritisch vermerkt werden, denn seine Herstellung wurde von immerhin drei namhaften Stiftungen gefördert: Zum einen sind die Seiten 8 bis 33 falsch gebunden (nur das Exemplar für den Rezensenten?). Zum anderen sind die Abbildungen etwas lieblos behandelt worden. Die Farben verschwimmen gelegentlich, was hauptsächlich dem unpassenden Papier geschuldet sein dürfte.
Ekkehard Henschke