Boris Gehlen: Die Thyssen-Bornemisza-Gruppe. Eine transnationale business group in Zeiten des Wirtschaftsnationalismus (1932-1955) (= Familie - Unternehmen - Öffentlichkeit. Thyssen im 20. Jahrhundert; Bd. 10), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2021, 445 S., 43 s/w-Abb., 31 Tbl., ISBN 978-3-506-76012-8, EUR 69,00
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Durchsucht man Wikipedia nach der Thyssen-Bornemisza Gruppe (TBG), finden sich ganze zwei, äußerst schmale Einträge auf Deutsch und Englisch, die jeweils nur rudimentäre Auskünfte geben. Weitaus höher ist die Trefferzahl für das von der Familie gestiftete und nach ihr benannte Kunstmuseum in Madrid: in 33 Sprachen sind hierfür detaillierte Informationen leicht abrufbar. Wertet man diesen Befund als eine bis an Unsichtbarkeit grenzende Diskretion für die Unternehmensstrategie der TBG und ihrer Eigentümerfamilie, so lässt sich der Erfolg kaum leugnen.
Entsprechend verdienstvoll ist die vorliegende Monographie zur Geschichte der Gruppe von den 1930er bis in die 1950er Jahre des letzten Jahrhunderts. Als zehnter Band der Reihe "Familie - Unternehmen - Öffentlichkeit: Thyssen im 20. Jahrhundert" erschienen, beschließt die Arbeit aus der Feder des Stuttgarter Unternehmenshistorikers Boris Gehlen die Fallstudien des 2008 begonnenen, groß angelegten Forschungsprojekts. Gehlen, der erst spät zu dem Projekt hinzustieß, hat die schwierige Quellenlage durch Recherchen in 17 Archiven sowie eine ergiebige Literaturauswertung gemeistert und eine ebenso umfassende wie präzise Unternehmensgeschichte vorgelegt.
Chronologisch wird der Faden dort aufgenommen, wo Harald Wixforths Studie der Gründungsjahre von 1926 - als das Erbe August Thyssens grosso modo entlang der Linie Montanindustrie/Rest zwischen den beiden Söhnen Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza aufgeteilt wurde - bis 1932 endet. Die Darstellung verweist indes zeitlich zurück und voraus, um strategische Weichenstellungen und Langzeitfolgen nachzuzeichnen.
Konzeptionell prägen zwei analytische Zugriffe die Erzählung. Dies ist zunächst die typologische Einordnung der TBG als Unternehmensgruppe mit ihrer spezifischen corporate governance, die im konkreten Fall geprägt wurde von dezentraler, managergeführter Leitung und multinationalen Investitionen einerseits sowie familiärer Eigentümerschaft andererseits. Dies spiegelt sich in den beiden Schwerpunkten der Arbeit. Als empirische Hauptteile fungieren Kapitel 2 und 5, die sich der wechselhaften Gruppenorganisation und der Verteilung von Eigentums- und Verfügungsrechten einerseits sowie den Geschäftsmodellen und operativen Strategien der wichtigsten TBG-Töchter andererseits widmen. Kürzere Abschnitte behandeln Leitungskultur und Personalentwicklung innerhalb der Gruppe sowie die finanziellen Erträge im Untersuchungszeitraum, der sich von der Zwischenkriegszeit bis in die 1950er Jahre erstreckt. Diesen leitet Gehlen aus den Rahmenbedingungen wirtschaftsnationalistischer Politik ab. Wie, so die Leitfrage, traf die wachsende nationale Eingrenzung unternehmerischer Tätigkeit und die Nationalisierung unternehmerischer Zielsetzungen ein Konstrukt, das dezidiert multinational organisiert war und dessen Führungspersonal sich nur teilweise und zudem stark abnehmend in nationalen - und hier vor allem in deutschen - Kategorien wiederfand?
Die Antwort auf diese Frage fällt im Detail kompliziert aus, im Großen und Ganzen jedoch einfach. Die vielfach verschachtelten Eigentumsverhältnisse - die Organigramme zeigen einen veritablen Wimmelbuch-Alptraum - und die grenzüberschreitende Verteilung von Verfügungsrechten gereichten der TBG und ihren Eigentümern sowohl zum Nach- als auch zum Vorteil, gelegentlich gar gleichzeitig. So nutzte die TBG den Umstand, dass niederländische Gesellschaften wichtige Teile des Kapitals der deutschen Produktionsunternehmen kontrollierten, um jahrelang Steuererträge am deutschen Fiskus vorbei zu schmuggeln. Dies war einträglich, solange nationale Grenzen auch für Steuerprüfer galten, eine Prämisse, die indes mit der territorialen Expansion des Deutschen Reiches obsolet wurde. Die sogenannte Hollandabgabe, die selbst interne Gutachter als "arglistig[e]" Täuschung (51) einstuften, wurde nach der deutschen Besatzung der Niederlande aufgedeckt und kostete die TBG fast 17 Mio. Reichsmark als Steuernachzahlung, was einem Steuersatz von nicht weniger als 48 Prozent entsprach. Zudem brachte sie die unerwünschte Aufmerksamkeit der Reichsfinanzbehörden, die Thyssen-Bornemisza und seine Manager zur Entschachtelung verpflichteten. Mit der deutschen Niederlage wurden nicht nur alte Grenzzäune wieder aufgezogen, neue kamen vor allem in Zentral- und Osteuropa hinzu, die der TBG ihren mitteldeutschen Unternehmensbesitz in der Baustoffbranche kosteten. Im Westen traf die alliierte Beschlagnahmung die Gruppe so schwer, dass Thyssen-Bornemisza im Sommer 1945 "nahezu vollständig enteignet" war (79). In vielen Verhandlungsrunden ließ sich zwar nicht der gesamte Besitz restituieren, doch die Masse der Unternehmenssubstanz verblieb den Thyssen-Bornemiszas, nicht zuletzt dank der Möglichkeit, die deutsche Nationalität ihrer Beteiligungen zu bestreiten und diese von der Demontage auszunehmen, tatkräftig unterstützt durch Teile der niederländischen Behörden.
Den Erben Heinrich Thyssen-Bornemiszas, Hans Heinrich, bestärkten die Erfahrungen der 1930er und 1940er Jahre darin, sich noch mehr aus nationalen Kontexten zu lösen, als sein Vater dies getan hatte. Gezielt baute er die TBG "von einem produktionsbasierten Familienunternehmen zu einer familiären Vermögensanlagegesellschaft bzw. von einer organischen zu einer Portfolio-business group" (111) mit stärkerem Fokus auf Risikomanagement um. Für den nie in Deutschland sozialisierten jungen Thyssen, den Gehlen als Vertreter von Leslie Sklairs transnational capitalist class einordnet, avancierte der Wirtschaftsnationalismus zum "Lehrmeister für Globalisierungsprozesse" (115). Dazu passt die Einschätzung, dass Vater und Sohn schon in der ersten Jahrhunderthälfte eine "shareholder value-Strategie avant la lettre" (404) verfolgt hätten.
Leider endet die Darstellung an dieser Stelle, an der es eigentlich erst so richtig spannend wird. Der interpretierende Blick geht stattdessen wieder zurück und streicht familiäre Traditionslinien heraus, welche die zweite Thyssen-Linie mit der Gründergestalt August Thyssen verbanden, insbesondere die zentrale Bedeutung des internen Rechnungswesens. Zugleich werden die Unterschiede zum Übervater deutlich, wenn Gehlen Heinrichs Führungsstil als "präsidiale Letztentscheidung" mit "Züge[n] eines höfischen Zeremoniells" qualifiziert (136), das indes eine wichtige integrative Funktion hatte. Die vorsichtig vorgetragene These, dies könne eine "sehr ehrliche Form von Unternehmertum" gewesen sein, "die auf die Selbstinszenierung als durchsetzungsstarker Alleskönner verzichtete und [...] anerkannte, dass strategische Entscheidungen letztlich die Summe umfassender Kommunikationsprozesse sind und nur in Ausnahmefällen geniale Ideen von Individuen darstellen" (146), mag den Thyssen-Bornemiszas größere Reflexionsfähigkeit zuschreiben als sich - wie Gehlen selbst anmerkt - quellenmäßig erhärten lässt.
Im Dickicht der detaillierten, um Vollständigkeit bemühten Darstellung sind es Passagen wie diese, welche die Lektüre besonders lohnen, und hier zeigt sich auch der Verdienst des Projekts, die Unternehmerfamilie systematisch zu untersuchen und Schwerindustrielle und Kunstsammler, Politikamateure und Pferdezüchter gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Ohne einen solchen Zugriff wäre die TBG kaum Gegenstand so eingehender Forschung geworden. In vielen Branchen tätig, in keiner führend, groß, doch eben nicht gigantisch, privat schillernd, aber unternehmerisch nicht auf den ersten Blick auffällig, ist die Geschichte der Gruppe eher unspektakulär, wenn man damit das Skandalträchtige meint: Das große Drama fehlt. Zwar macht das Leitthema der widerstreitenden Dynamiken zwischen transnationaler Organisation und national(istisch)er Wirtschaftspolitik eine Reihe von Konflikten sichtbar, welche die TBG und ihr Führungspersonal beschäftigten. Doch auf den klassischen Feldern unternehmerischer Implikation in NS-Verbrechen - Korruption, "Arisierung", Zwangsarbeit, territoriale Expansion - trat die TBG nicht besonders in Erscheinung; auch für die Beteiligung an der nationalsozialistischen Aufrüstungspolitik konstatiert Gehlen eine "eher defensive" (279) Rolle der meisten Thyssen-Bornemisza-Beteiligungen, auch wenn diese nicht ethisch, sondern strategisch begründet war.
Doch eben darin liegt der besondere Wert des Bandes, der nicht nur wichtige Erkenntnisse für eine ganze Reihe regional bedeutender Unternehmen von Thyssengas bis zum Bremer Vulkan liefert, sondern den Blick auf Variationen innerhalb der im "Dritten Reich" agierenden Unternehmen richtet, statt bloß schon bekannte Befunde zu bestätigen. Da sieht man dem Verfasser sogar den abgetretenen Paarreim Wandel/Handel (262) nach. Gehlen hat eine rundum gelungene Arbeit vorgelegt, die nicht zuletzt für die Unternehmensentwicklung der zweiten Jahrhunderthälfte wichtige Pflöcke einschlägt und Maßstäbe setzt. Die erfolgreiche Bilanz des Thyssen-Projekts wird mit diesem Band in imposanter Weise abgerundet.
Kim Christian Priemel