Andreas Heyer (Hg.): Der lange Weg zur Revolution. Das politische Denken Denis Diderots (= Staatsverständnisse; Bd. 152), Baden-Baden: NOMOS 2021, 254 S., ISBN 978-3-8487-7750-1, EUR 54,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Alexander Schunka: Ein neuer Blick nach Westen. Deutsche Protestanten und Großbritannien (1688-1740), Wiesbaden: Harrassowitz 2019
Ute Frevert: Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen?, Göttingen: Wallstein 2012
Stefano Saracino: Republikanische Träume von der Macht. Die Utopie als politische Sprache im England des 17. Jahrhunderts, Göttingen: V&R unipress 2014
Denis Diderot dürfte unter Historikern insbesondere seit Robert Darntons großer Studie vorwiegend als organisationsstarker Praktiker wie gedankenreicher Theoretiker der "Encyclopédie" bekannt sein, ohnehin als vehementer Religionskritiker der posthum publizierten "Nonne", vielleicht noch, nicht zuletzt dank Goethes Übersetzung, als Autor des gar nicht so kurzen, aber umso kurzweiligeren philosophischen Dialogs "Rameaus Neffe". Nunmehr sein weniger bekanntes Profil als politischer Denker zu umreißen, ist Anliegen des hier zu besprechenden Sammelbandes - so interdisziplinär angelegt wie das Philosophieren seines Helden selbst, dessen feingliedrige Denkungsart bereits das berühmte Loos'sche Porträt widerspiegelt: Es ziert den Einband, am Anfang des schön komponierten Buches kommt Diderots eigene Deutung eben dieses Porträts zum Abdruck.
Eine ausführliche Einleitung des Herausgebers weist das "Fragmentarische" (12) als charakteristische Eigenschaft von Diderots umfangreichem, disparat anmutendem Schaffen aus. Präsentiert wird er gleichwohl eher als Systemdenker, der eine eigene, zwischen Hobbes und Rousseau vermittelnde Vertragstheorie entworfen habe (16). Diese Einführung setzt weitere Akzente für den gesamten Band, indem sie Diderot als demokratisch gesinnten, optimistischen Reformer (17f.) kennzeichnet, der durchaus mit materialistischen Argumenten umzugehen gewohnt war, und seine Romane als wesentliche Ausdrucksformen politischer Philosophie begreift. Sorgsam unterschied Diderot zwischen veröffentlichungsfähigem und klandestinem Wissen (31), am Ende geriet er zum klaren Absolutismuskritiker, wie die radikalen "Eleutheromanen" belegen (43).
Der erste Teil des Buches, das zentralen Schriften Diderots mehr oder minder in der Reihenfolge ihres Entstehens folgt, ist seinem Frühwerk gewidmet: konsequenterweise, indem der "lange Weg zur Revolution" bereits im Buchtitel angezeichnet wird - auch wenn die abgedruckten Aufsätze insgesamt die Strecke etwas kürzer erscheinen lassen. Jene Radikalisierung, die man dem gesamten Schaffen attestieren mag, ist Diderots ersten Texten jedenfalls kaum abzulesen. Zunächst analysiert Hans-Jürgen Lüsebrink den Übersetzer Diderot, der seine Übertragung von Ephraim Chambers "Encyclopaedia" ins Französische als "ein Experimentierfeld enzyklopädischen Schreibens" genutzt habe (53) - der später beibehaltene "dialogische Schreib- und Denkstil" (68) durchzieht auf charakteristische Weise bereits die Übersetzertätigkeit. Andreas Heyer möchte mit intensivem Blick auf seltener wahrgenommene Werke des jüngeren Diderot wie die "Philosophischen Gedanken" sowie den "Spaziergang des Skeptikers" wesentliche "Entwicklungsstränge" respektive "Kontinuitätslinien" (74) offenlegen. Dazu gehören eine bereits früh angelegte Zivilisationskritik (83) und vor allem, wie bei Rousseau und La Mettrie, "der Zweifel an objektiv gültigen Normen, Begriffen und Gesetzen". (86) Anders gesagt: Der eminent produktive Autor war Skeptiker (wie etwa auch David Hume).
Im Zentrum des zweiten Buchabschnitts steht Diderots Wirken rund um die "Encyclopédie". Volker Müller zeigt auf, inwiefern sich Diderot bei der Arbeit an der "Encyclopédie" von Chambers' Vorlage entfernte - und insbesondere, wie unter ausdrücklichem Anwendungsaspekt die mechanischen Künste zu systematischer Darlegung kamen (109), getragen von einem festen Fortschrittsbewusstsein (113). Was sich der spanische Naturrechtler Suárez bei der Lektüre von Diderots Texten hätten denken mögen, sucht Damien Tricoire zu simulieren: um den fortwährenden Einfluss thomistischer Lehren noch auf die Aufklärung zu demonstrieren und Diderot, dessen Vorstellungen zum großen Teil als spätscholastische Selbstverständlichkeiten dargestellt werden, inmitten eines naturrechtlichen Mainstreams zu lokalisieren. Diderots Denken erscheint hier als "konservativ im wörtlichen Sinn", gar als "Ausdruck einer Recht-und-Ordnung-Ideologie". (137)
Der politischen Dimension von Diderots literarischem Schaffen wenden sich die Aufsätze des dritten Teils des Sammelbands zu. Nikolaus Immer fragt anhand von "Rameaus Neffe" nach der "politischen Konstitution des Intellektuellen" und findet zu einer dialogischen, zugleich dialektischen Antwort. Im Gespräch zwischen Rameau und dem Philosophen komme es zwar zu keiner dezidierten Kritik an Missständen, aber eben zur gezielten "Offenlegung dieser Verhältnisse". (156) Inwiefern Diderot im "Paradoxe sur le Comédien" den Schauspieler zu einem "demokratischen Ideal" (171) gemacht habe, erkundet sodann Christine Abbt: gezeichnet als kühler Bobachter, der sich gerade nicht in seine Rolle einfühlen, sondern vielmehr allzeit kritische Distanz wahren solle. Mit der "Utopie des kritischen Wilden" in Diderots "Nachtrag zu Bougainvilles Reise" setzt sich Peter Seyferth auseinander: Nicht anarchisch, sondern vielmehr "anti-dogmatisch" (205) sei die Stoßrichtung dieses Textes. Dass Diderot seine eigene Autorität dekonstruiert habe, verstärkt noch den Befund einer skeptischen Betrachtung des zeitgenössischen Frankreich (197). Mithin lässt sich das im Reisebericht so bunt präsentierte Tahiti vor allem als Medium einer kontrastierenden Kritik auffassen, weniger einer Utopie (201).
Schließlich untersuchen die Beiträge zum vierten Großkapitel einige "Elemente der Demokratietheorie" in Diderots Werken und in seinem Wirken. Eine knappe Skizze von Diderots Aufenthalt bei Katharina der Großen zeichnet Christiane Landgrebe: gleichermaßen mit Blick auf den intensiven Austausch beider in Gesprächen über Monate hinweg wie auf die nüchterne Bilanz von Diderots Wirken als Reformberater (218). Inwiefern Diderot sich im Laufe der Zeit vom der "Ideal- zur Realpolitik" aufgemacht habe, erforscht Urs Marti-Brander - ein "überzeugter Revolutionär" sei Diderot freilich nicht geworden (233), dank einer pessimistischen Wahrnehmung, die ihn eher zu einem Mahner habe geraten lassen: für Revolutionen habe er sich zwar begeistert, aber "seine Argumente laufen darauf hinaus, Revolutionen zu vermeiden. Als Fürstenberater konnte er sich verständlicher Weise nicht profilieren". (236) Diderots absichtsvoll unsystematisch angelegten "Essay über die Herrschaft des Claudius und Nero und Leben und Werke Senecas" beschreibt Till Kinzel als gegen Rousseau gerichteten Traktat, dessen Komposition auf die Aufhebung vermeintlicher Gewissheiten ziele (241); der Philosoph zeige sich hier als Lehrer, der die Grenzen seines eigenen Wissens kenne, insofern habe Diderot mit seinem Seneca, immerhin sein letzter großer Text, "eine Objektivierung seines Weltbezugs" betrieben (248).
So stellt der Sammelband insgesamt Diderot als facettenreichen Autor vor, der nicht auf einzelne Themen oder Thesen festzulegen ist - sondern am ehesten auf eine dialogische Anlage seines Denkens und auch seines Wirkens. Damit wiederum erweist sich Diderot als Musteraufklärer: wenn man Aufklärung in der Folge mancher jüngerer Studien tendenziell weniger als Ensemble einzelner Leitsätze denn als spezifische Kommunikationsform begreift. Insofern eignet sich diese Aufsatzsammlung trefflich, auf fragmentarische Weise das Fragmentarische im Denken seines Helden sichtbar zu machen. Eine solche Pointe hätte Diderot zweifellos gefallen, der hier als eigenständiger politischer Kopf erkennbar wird: dialogbereit nicht nur für Revolutionäre, sondern eben auch für eine reformorientierte Zarin und überhaupt für alle, die zur Hinterfragung des Gewohnten bereit waren, ohne sich eben diese zum Selbstzweck zu bestimmen.
Georg Eckert