Thomas Wünsch: Der weiße Adler. Die Geschichte Polens vom 10. Jahrhundert bis heute, Wiesbaden: marixverlag 2019, 312 S., ISBN 978-3-7374-1116-5, EUR 24,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Gesamtdarstellungen der Geschichte eines Landes galten lange Zeit als die Krönungen wissenschaftlichen Schaffens. Bedeutende Historiker - übrigens praktisch nie Historikerinnen - verfassten gegen Ende ihrer wissenschaftlichen Karriere thesengestützte Übersichten, welche die eigene Sicht auf die Dinge für die nächsten Generationen festhalten wollten. Heutzutage ist es angesichts der Vielfalt der Forschungen, der Komplexität vieler Sachverhalte, aber auch der methodischen Herausforderungen kaum noch möglich, 1000 Jahre mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand einigermaßen kohärent und kompetent zu behandeln. Als Konsequenz hieraus entstehen Großprojekte wie das Handbuch Polen in der europäischen Geschichte mit einigen Dutzend Autorinnen und Autoren, dessen Fertigstellung noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird. [1]
Vor diesem Hintergrund ist es durchaus mutig zu nennen, wenn der Passauer Mediävist Thomas Wünsch sich eine solche Übersichtsdarstellung im Alleingang vorgenommen hat. In seinem knappen Vorwort nennt er als Hauptmotiv, dass das Buch "vor allem deutsche Leser dazu befähigen [möchte], mitsprechen zu können" (11). In der Form einer politischen Geschichte, aber auch im Sinn einer umfassenderen Kulturgeschichte soll die Geschichte Polens als multinational verflochten präsentiert werden.
Wünsch entschied sich gegen das Setzen von Fußnoten und für die Verwendung eines - sehr selektiven - Literaturverzeichnisses. Mitunter sollen in Klammern im Text verwendete Autorennamen Forschungsnähe suggerieren, ohne dass die genauen Belegstellen für die übernommenen Formulierungen und Gedanken angegeben werden.
Der Aufbau des Buches erscheint einem Neuzeithistoriker ungewöhnlich, lässt sich in einer Langzeitperspektive allerdings durchaus rechtfertigen. Die Zeit vor den Teilungen Polen-Litauens umfasst beinahe 60 Prozent des Textes, das 20. und 21. Jahrhundert dagegen nur etwa 60 Seiten. Die Gliederung orientiert sich sehr klassisch an den Herrscherdynastien, dann an den Teilungsgebieten und den großen Zäsuren des 20. Jahrhundert (1918, 1939, 1945, 1989). Mit manchen Interpretationen muss man nicht einverstanden sein, zumal sie sich mitunter sehr stark an den klassischen Narrativen der älteren polnischen Historiografie orientieren. Dies gilt insbesondere für die Frühe Neuzeit, wo das Modell des schwachen Herrschers, der mächtigen Magnaten und der chaotischen Reichstage jüngst doch mehr und mehr in die Kritik geraten ist. Selbstverständlich war Polen-Litauen "keine auch nur halbwegs homogene Staatsmasse" (165), dies gilt aber genauso für alle anderen Reiche der Epoche, inklusive des vermeintlich so zentralistischen Frankreichs. Auch Wünschs Ablehnung des von Klaus Zernack geprägten Begriffs der "negativen Polenpolitik" Preußens wird nicht näher begründet (159). Warum man die Geschichte des russischen Teilungsgebiets "sicherlich zunächst als eine Geschichte der zwei großen Aufstände" (181) verstehen muss, lässt sich zwar anhand des klassischen romantischen Verständnisses der nationalpolnischen Überlieferung nachvollziehen, interessanter wäre es aber nachzuspüren, wo sich strukturelle Überlappungen und Modernisierungsansätze befunden haben und wie der Alltag einer wie auch immer gearteten "polnisch-russischen" Koexistenz ausgesehen hat. Mit einer solchen differenzierteren Perspektive wäre es auch leichter gefallen, die Entwicklungen im preußischen Teilungsgebiet stärker jenseits eines starren Nationalitätenverständnisses zu deuten, wie es dem Verfasser in Bezug auf die Region Oberschlesien ja immer wieder gelingt.
1987 bilanzierte Hans-Werner Rautenberg die damals gerade frisch erschienene Geschichte Polens des Saarbrücker Historikers Jörg K. Hoensch folgendermaßen: "Wenn sich bei der Lektüre der vorliegenden imponierenden Synthese eine letzte Befriedigung dennoch nicht einstellen will, so liegt die tiefere Ursache hierfür vor allem wohl darin begründet, daß der Verfasser seinen Text mit allzu vielen Informationen überfrachtet hat". [2] Diese Bewertung lässt sich cum grano salis sehr gut auf Wünschs Buch übertragen. An der Zuverlässigkeit der wiedergegebenen Fakten, an der Bewertung der historischen Ereignisse und an der Vielfalt der bereitgestellten Informationen zur politischen Geschichte Polens lässt sich wenig kritisieren. Bei der Lektüre könnte der Leser allerdings den Eindruck gewinnen, in den letzten 35 Jahren habe sich die Geschichtsschreibung zu Polen nur wenig verändert, es seien immer noch die großen Männer, die Geschichte machten. Im Grunde fehlt all das, worüber seitdem im internationalen Rahmen intensiv diskutiert worden ist: Elemente der Sozial- und Alltagsgeschichte, methodisch-theoretische Ansätze aus den Kulturwissenschaften jenseits eines Höhenkammbegriffs von Kultur, vergleichende europäische Überlegungen bis hin zu den Feldern von Gender und Postcolonial Studies. Wirtschaftsgeschichte spielt kaum eine Rolle, die "Geschichte zweiten Grades" im Sinne Pierre Noras nur kurz ganz am Ende. Vielleicht war das ja auch Absicht, und den angestrebten Leser interessieren diese Themen gar nicht. Aber gibt es diesen klassischen Bildungsbürger überhaupt noch? Wird er sich über die Fakten nicht viel eher rasch bei Wikipedia informieren, als sich von Ereignis zu Ereignis durch die Chronologie zu hangeln?
Wünsch hat ein sympathisches und empathisches Buch geschrieben, das an jeder Stelle deutlich macht, welch großes Wissen der Verfasser besitzt. Für die Forschung zur Geschichte Polens im 21. Jahrhundert hat es allerdings wenig beizutragen. Vermutlich möchte es das aber auch nicht. Dann wäre es jedoch klüger gewesen, die großen Entwicklungslinien mit einigen spannenden Einzelgeschichten zu verknüpfen, um die Lesbarkeit zu erhöhen.
Anmerkungen:
[1] Bereits erschienen sind: Band 2: Frühe Neuzeit, hrsg. von Hans-Jürgen Bömelburg, Stuttgart 2017; Band 3: Die polnisch-litauischen Länder unter der Herrschaft der Teilungsmächte (1772/1795-1914), hrsg. von Michael G. Müller, Stuttgart 2020.
[2] Hans-Werner Rautenberg, in: Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987), 3, 340.
Markus Krzoska