Andreas Schulz: Das Kaiserreich wird abgewählt. Wahlen in den schwarzburgischen Fürstentümern 1867-1918 und Deutschlands beginnende Demokratisierung (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 61), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 573 S., 8 Kt., 10 Farbabb., 39 Tbl., ISBN 978-3-412-52302-2, EUR 75,00
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In seiner 2019 in Jena als Dissertationsschrift angenommenen voluminösen Arbeit untersucht Andreas Schulz die Wahlen in den schwarzburgischen Fürstentümern von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs: für Schwarzburg-Rudolstadt sowohl die Reichstags- als auch die Landtagswahlen, für Schwarzburg-Sondershausen nur die Reichstagswahlen, da die dortigen Landtagswahlen wegen des rückständigen Wahlrechts für eine Studie, die sich insbesondere für Modernisierungs- und Parlamentarisierungspotentiale interessiert, keine Aussagekraft besitzen. Dass es Schulz um einen Beitrag zu den Großdiskussionen um den Grundcharakter des Kaiserreichs als monolithischem Obrigkeitsstaat oder aber als teilmodernem und reformfähigem politischem System geht, kommt schon im Titel der Studie zum Ausdruck und wird von ihm in der Einleitung mit Nachdruck betont: mit gut nachvollziehbaren und sachlichen Argumenten, aber auch mit aus der Zeit gefallenen Polemiken gegen die Kaiserreich-Deutungen Hans-Ulrich Wehlers und Thomas Nipperdeys (13f.).
Um das Verhalten der Wähler in den beiden thüringischen Kleinfürstentümern - Schwarzburg-Rudolstadt zählte am Vorabend des Ersten Weltkriegs etwas mehr und Schwarzburg-Sondershausen etwas weniger als 100.000 Einwohner - einordnen zu können, betreibt Schulz einen beträchtlichen Aufwand und stellt der eigentlichen Wahlanalyse einen in vier Unterkapitel gegliederten Teil "Rahmenbedingungen" voran: Am Anfang dieses thesenfreudigen Abschnitts stehen knappe Ausführungen zum Föderalismus im politischen System, es folgt eine - den Rezensenten nicht recht überzeugende - Charakteristik der Regierungsform im Kaiserreich als "Präsidentialismus", "wie er in ähnlicher Form heute in Brasilien zu finden ist" (42), der sich plausiblere Überlegungen zu den Auswirkungen der absoluten Mehrheitswahl auf die Ausbildung eines "Links-Rechts-Gegensatzes" anschließen, die Schulz mit einem vom Politikwissenschaftler Dankwart Rüstow in den 1970er Jahren entworfenen Demokratisierungsmodell verknüpft; den Schluss bildet eine Diskussion der "Kleinstaatlichkeit", der Schulz allerdings einen "signifikanten Einfluss auf das Wahlverhalten" schließlich nicht zusprechen möchte (98).
In medias res führt das "Wahlfreiheit" betitelte erste Großkapitel, in dem Schulz auf annähernd 100 Druckseiten dokumentiert, wie die Wahlprüfungen durch die Parlamente verliefen und welche staatlichen Repressionen auf die Wahlkämpfe einwirkten. Die Untersuchung ist sehr breit angelegt, indem zu Vergleichszwecken auch noch die Wahlprüfungen im Landtag von Schwarzburg-Rudolstadt in den zwei Jahrzehnten vor dem eigentlichen Untersuchungszeitraum und in synchroner Perspektive die Wahlprüfungen im Landtag von Reuß jüngerer Linie im Kaiserreich herangezogen werden. Dass Schulz gelegentlich über den Tellerrand hinausschaut, ist nicht grundsätzlich zu monieren; mit einem Exkurs über "Wahlprüfungen in der Gegenwart", der unter anderem auf die Berliner Abgeordnetenhauswahlen von 2016 rekurriert, tut er aber doch wohl des Guten zu viel. Der sachliche Ertrag der Analyse der Wahlprüfungen ist überschaubar. Schulz selbst konstatiert, dass es "bemerkenswert" sei, "wie wenig Antwort" die Wahlprüfungsdiskussionen auf die Frage geben, ob die Wahlen "frei" waren (194). Immerhin bilanziert er dann doch, dass die "damaligen Wahlen im Untersuchungsgebiet ausreichend frei gewesen zu sein" scheinen, "um die Wahlergebnisse in einem eine Untersuchung ermöglichenden Maße die eigene Entscheidung der Wahlberechtigten widerspiegeln zu lassen" (196).
Diese Untersuchung nimmt Schulz anschließend in zwei Schritten vor: Zunächst analysiert er die Reichstagswahlen in Schwarzburg-Rudolstadt und in Schwarzburg-Sondershausen - für beide Fürstentümer getrennt und jeweils mit einem der Dokumentation der Wahlergebnisse vorangestellten Porträt des "Kandidatenangebots", das in verdienstvoller Kleinarbeit vor allem aus der zeitgenössischen Regionalpresse herauspräpariert wird. Der mit etwas mehr als 100 Druckseiten umfangreichste Teil der Arbeit ist die anschließende Untersuchung der Landtagswahlen in Schwarzburg-Rudolstadt, die in strikter chronologischer Ordnung mit Unterkapiteln für jede einzelne Wahl und Nachwahl präsentiert wird. Dramaturgisch läuft sie auf die von Schulz schon in der Einleitung prominent platzierte Wahl von 1911 zu, die in einem in der Parlamentsgeschichte des Kaiserreichs singulären Vorgang der SPD eine Mandatsmehrheit (neun von 16) im Landtag brachte und dem Sozialdemokraten Franz Winter die Wahl zum Landtagspräsidenten ermöglichte. Hierauf bezieht sich auch die titelgebende Formulierung: "Das Kaiserreich wird abgewählt", deren etwas plakativer Charakter allerdings in dem Schlusskapitel der Arbeit deutlich hervortritt, das die "Potenziale und Auswirkungen der sozialdemokratischen Landtagsmehrheit" ausmisst: Infolge des Wahlergebnisses geriet der Thron Günther Victors von Schwarzburg-Rudolstadt noch keineswegs ins Wanken, und ein Fanal für die monarchischen Ordnungen andernorts ergab sich hieraus schon gar nicht, zumal sich die Sozialdemokraten "in entscheidenden Momenten als zu handzahm" erwiesen (438).
Es ist Schulz zugute zu halten, dass er die Bedeutung seines Untersuchungsgegenstandes für die allgemeine Geschichte des Kaiserreichs nicht - oder zumindest nicht durchgehend - überschätzt. Um die Aussagekraft der für den kleinstaatlichen Parlamentarismus von ihm exemplarisch erhobenen Befunde zu prüfen, stellt er seiner Detailuntersuchung ein Vergleichskapitel hintan, das in der Auswertung der einschlägigen Literatur Aussagen zum "Landtagswahlverhalten" in anderen Ländern trifft: in Baden und in Württemberg und in einem Sammelkapitel über die "Entwicklung in verschiedenen Bundesstaaten 1903-1913". Hier finden sich manche instruktiven Ausführungen, aber auch einige Ungereimtheiten, etwa wenn Schulz in dem Abschnitt über die Korrelation von Landtags- und Reichstagswahlergebnissen in Baden in den 1880er Jahren nur mit Zahlen operiert (400f.) und den elementaren Sachverhalt außer Acht lässt, dass die Landespolitik damals ganz von Kulturkampfthemen dominiert wurde, die in den Reichstagswahlkämpfen eine weitaus geringere Rolle spielten. Hier wie an anderen Stellen der Studie drängt sich der Verdacht auf, dass sich Schulz zwar nicht an seinem Thema, aber an dem Versuch überhoben hat, dessen Relevanz für das Allgemeine herauszustreichen. Auch ohne den theoretischen Ballast, den er in den Kapiteln über die "Rahmenbedingungen" angehäuft hat, hätte er vielleicht leichter durch seinen zweifellos interessanten Untersuchungsgegenstand navigieren können.
Frank Engehausen