Thomas Brechenmacher: Im Sog der Säkularisierung. Die deutschen Kirchen in Politik und Gesellschaft (1945-1990) (= Die geteilte Nation. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1990; Bd. 2), Berlin: BeBra Verlag 2021, 208 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-3-89809-196-1, EUR 22,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Poul Villaume / Odd Arne Westad (eds.): Perforating the Iron Curtain. European Détente, Transatlantic Relations, and the Cold War 1965-1985, Kopenhagen: Museum Tusculanum Press 2010
Michael Funken: Das Jahr der Deutschen. Die glückliche Geschichte von Mauerfall und deutscher Einheit, Zürich: Pendo Verlag 2008
Everhard Holtmann / Anne Köhler: Wiedervereinigung vor dem Mauerfall. Einstellungen der Bevölkerung der DDR im Spiegel geheimer westlicher Meinungsumfragen, Frankfurt/M.: Campus 2015
Beide große Kirchen waren, wie Thomas Brechenmacher schreibt, sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland dem "Sog der Säkularisierung" ausgesetzt. Trotz dieser Gemeinsamkeit verfügten die Kirchen in der westdeutschen Demokratie und in der ostdeutschen Diktatur über höchst unterschiedliche Handlungsspielräume; außerdem gab es tiefgreifende Unterschiede zwischen beiden Konfessionen. Und sowohl für den Katholizismus als auch für den Protestantismus spielte das Verhältnis von kirchlicher und staatlicher Einheit in der Zeit der Teilung eine wichtige Rolle.
Brechenmacher legt seiner Darstellung eine im Wesentlichen thematische Gliederung zugrunde. Nach knappen Ausführungen zu Begriffen und Strukturen beschäftigt er sich zunächst mit der Neuaufstellung der beiden Kirchen vor dem Hintergrund der Erblast des NS-Regimes und mit deren Stellung "in Verfassung und Verfassungswirklichkeit". (43) Hier stand die "verschränkte Ordnung" des Grundgesetzes (46) der strikten Trennung von Staat und Kirche in der ersten DDR-Verfassung gegenüber. Mit der Verfassung von 1968 entfielen die Kirchenartikel von 1949 - die Kirchen waren nun auch verfassungsrechtlich aus dem Staat verdrängt worden.
Unter der Überschrift "Schule und Jugend" geht es für Westdeutschland um die Diskussion über die Bekenntnisschule und den Religionsunterricht. Für die DDR werden hier die großen Konflikte der 1950er-Jahre abgehandelt: der erfolglose Kampf gegen die Junge Gemeinde bis 1953, die Durchsetzung der Jugendweihe und die Beendigung des schulischen Religionsunterrichts ab der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre. Anders als Brechenmacher schreibt, war nicht Letzteres, sondern die Jugendweihe ein "Katalysator der Entchristlichung". (76) Denn Jugendliche, die diesen sozialistischen Ritus durchlaufen hatten, sahen als Erwachsene auch keinen Anlass mehr, ihre Kinder taufen zu lassen und kirchlich zu erziehen.
Daran schließt ein zentrales Kapitel zum Verhältnis von Staat und Kirchen in West- und Ostdeutschland an. Die katholische Kirche in der DDR gab sich nach anfänglicher heftiger Konfrontation mit dem Staat auf die Dauer mit einem Modus Vivendi und einer Nischenexistenz zufrieden. Anders als die evangelischen Kirchen, gaben sie Ende der 1950er-Jahre keine Loyalitätserklärung ab. Letztere fühlte sich jedoch sehr viel stärker dazu berufen, die DDR als ihr Aktionsfeld zu begreifen, was dazu führte, dass sie sich bis zu einem gewissen Grad arrangierte, sich allerdings nicht bedingungslos dem Staat unterwarf. "Kirche im Sozialismus" war die vom Bund evangelischer Kirchen in der DDR vorgenommene Ortsbestimmung: Nicht gegen, nicht neben, sondern in diesem Staat wollte dieser wirken. Wenn Brechenmacher dies auf "Appeasement und Arrangement" reduziert (98), ist das zu einfach. Recht hat er jedoch, wenn er Religion für die Bundesrepublik als "ein in die pluralistische Willens- und Meinungsbildung eingepreiste[n] Faktor", für die DDR aber als "Störfaktor" bezeichnet (108).
Der gesellschaftliche Wandel brachte es mit sich, dass in beiden Staaten die Kirchen Mitglieder verloren und die Kirchenbindung der Christen nachließ - in der DDR stärker als in der Bundesrepublik und bei den Protestanten mehr als bei den Katholiken. Damit stellten sich auch die Fragen, inwieweit beide Kirchen noch gesellschaftliche Relevanz aufwiesen und wie sich der gesellschaftliche Wandel innerkirchlich niederschlug. Gerade in diesem Zusammenhang sind Vergleiche und der Blick auf wechselseitige Perzeptionen erhellend. Brechenmacher konzentriert sich auf für die Kirchen besonders wichtige gesellschaftliche Themen wie Ehe, Familie und Sexualität, insbesondere die Reform des Abtreibungsrechts in Ost und West. Interessant ist hier der Hinweis, dass im westdeutschen Katholizismus unter Laien und in der Amtskirche nach dem 2. Vatikanischen Konzil ein liberaleres Klima herrschte als in der DDR, wo die Ordinarien sehr viel stärker die Verbindlichkeit des päpstlichen Lehramts hervorhoben. Daneben war die Haltung zu Krieg und Frieden seit den 1950er-Jahren für beide Kirchen ein zentrales Problem, das ebenfalls typische Ausprägungen in der DDR und in der Bundesrepublik besaß.
Wenngleich ein eigenes Kapitel den insbesondere für die Kirchenfinanzierung wichtigen innerkirchlichen Transfers und Kontakten gewidmet ist, kommt ein Thema in diesem Zusammenhang zu kurz: die Einheitsbestrebungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die Abspaltung des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR (BEK) von der EKD 1969 wird zwar genannt und etwas verkürzt auf die neue DDR-Verfassung von 1968 zurückgeführt. Jedoch ergab sich die Spaltung nicht automatisch mit der Verfestigung der deutschen Teilung seit dem Mauerbau. Sowohl in West- als auch in Ostdeutschland bemühten sich zentrale kirchliche Akteure, an der Einheit festzuhalten, so dass die Trennung einen längeren Prozess darstellte, der verdient hätte, näher beleuchtet zu werden. Und dass die "besondere Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland", zu dem sich der BEK in seiner Grundordnung bekannte - und die von der DDR nicht gern gesehen wurde - "eher rhetorische Figur denn gelebte Realität" gewesen sei (138), unterschätzt die starken Bindungskräfte, die sich sowohl in regelmäßigen Spitzentreffen von BEK und EKD als auch in den Partnerschaften zwischen west- und ostdeutschen Landeskirchen und Gemeinden niederschlugen.
Das insgesamt sehr informative, flüssig geschriebene Buch endet nach Darlegungen zur Rolle der Kirchen in der friedlichen Revolution mit einem Ausblick auf die Gegenwart, der aus christlicher Sicht wenig hoffnungsvoll stimmt. Denn weder das "Politisierungsrezept eines in Teilen bis zur Unkenntlichkeit verzeitgeistigten Protestantismus" noch die Verbarrikadierung der "katholische[n] Amtskirche hinter dogmatischen Bastionen in sturer Realitätsverleugnung" (170 f.) bieten der nachvollziehbaren Ansicht des Autors zufolge Perspektiven für eine Wiederbelebung von Kirche und Christentum im 21. Jahrhundert.
Hermann Wentker