Georg Bönisch / Sven Röbel: Fernschreiben 827. Der Fall Schleyer, die RAF und die Stasi, Köln: Greven-Verlag 2021, 207 S., ISBN 978-3-7743-0674-5, EUR 18,00
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Die älteren Zeitgenossen erinnern sich noch an das Medium Fernschreiben, einen Vorläufer der E-Mail. Ein einziges davon wurde nun zum Dreh- und Angelpunkt eines ganzen Buches. Und tatsächlich hätte das Fernschreiben 827 der Polizeibehörde Erftstadt vom 9. September 1977 ein Menschenleben retten können: das des vier Tage zuvor entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Denn genau dieses Fernschreiben enthielt den zutreffenden Hinweis auf jene verdächtige Wohnung, in der die RAF zu diesem Zeitpunkt Schleyer als Geisel gefangen hielt. Doch der heiße Tipp ging in einer Flut falscher Hinweise unter. Zudem wurden wegen der politischen Bedeutung des Falles die polizeilichen Meldewege geändert. Man fand das Versteck so erst dann, als der Entführte längst verlegt und ermordet worden war. Um zusätzlichen Druck aufzubauen, hatten palästinensische Terroristen sogar noch die Lufthansa-Maschine Landshut entführt, bis die GSG 9 alle Passagiere in Mogadischu befreite - was wohl den Suizid der Stammheimer RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe auslöste und den "Deutschen Herbst" von 1977 beendete.
Die Fahndungspanne rund um das Fernschreiben 827 wurde schon 1978 durch den früheren Innenminister Hermann Höcherl genauestens untersucht. Doch die Autoren Georg Bönisch und Sven Röbel vermuten nun, die Staatssicherheit der DDR habe ihre Finger im Spiel gehabt. Diese These untermauern sie mit einigen Indizien, die jedoch kein schlüssiges Bild ergeben. Dass etwa in dem Hochhaus mit Schleyers Gefängnis vor der Entführung ein Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit wohnte und deren Zuträger auch in Kölner Meldeämtern saßen, sind respektable Rechercheergebnisse auf intensiv erforschtem Terrain. Doch die Autoren behaupten, die Staatssicherheit habe das Fernschreiben verschwinden lassen, um Fahndungsmaßnahmen zu vermeiden, die auch die Westagenten der Auslandsspionage hätten gefährden können. Im Interesse der Staatssicherheit hätte es freilich eher gelegen, Schleyers Versteck rasch auffliegen zu lassen, um so ein Ende der Großfahndung zu bewirken. Wie sollten auch die IM im bundesdeutschen Polizeiapparat den einzig richtigen unter unzähligen irrtümlichen Hinweisen erkennen, binnen Tagen die Staatssicherheit informieren und dann deren Auftrag entgegennehmen?
Bei der Studie handelt es sich um eine verschwörungstheoretische Deutung des "Deutschen Herbstes", die den Einfluss der Staatssicherheit bei weitem überschätzt. Wo die Autoren "Gewährsleute im Sicherheitsapparat" der Bundesrepublik als Hinweisgeber vermuten (192), wandte sich in Wirklichkeit die Bundesregierung halboffiziell an die DDR-Regierung, in einem anderen Fall lieferte der sowjetische KGB die "heißen Infos". [1] Und der Ohnesorg-Mörder Karl-Heinz Kurras fungierte, anders als behauptet, 1967 de facto auch nicht länger als IM der Staatssicherheit. Unerwähnt bleibt hingegen, dass die RAF-Galionsfigur Ulrike Meinhof, die im Untergrund lebte, die DDR zunächst nicht einmal mehr betreten durfte, nachdem sie von dort aus Anschläge vorbereiten wollte. Dies hätte wohl nicht in die Diktion von Bönisch und Röbel gepasst.
Um die Haltung der Staatssicherheit zu verstehen, wäre ein Vergleich ihres Umgangs mit anderen Terrorgruppen aufschlussreich gewesen: Wie wurde mit der Bewegung 2. Juni, den Revolutionären Zellen und den Palästinensern verfahren? Dabei wäre offenkundig geworden, wie sehr die Staatssicherheit um die außenpolitische Reputation der DDR besorgt war und deswegen gegenüber der selbsternannten Stadtguerilla aus der Bundesrepublik meist Vorsicht walten ließ. Einen Schulterschluss gab es eher mit den (palästinensischen) Befreiungsbewegungen, weil man sich diesen weltanschaulich stärker verbunden fühlte.
Warum dem Fernschreiben 827 zunächst nicht nachgegangen wurde, vermögen die Autoren nicht abschließend zu klären. Dies ist ihnen nicht vorzuwerfen, berechtigt sie aber nicht zu allzu weit hergeholten Vermutungen. Stattdessen beantworten Bönisch und Röbel viele andere Fragen, die niemals gestellt wurden - etwa was eine Ohrenzeugin des Überfalls auf die Wagenkolonne Schleyers empfand, die in 300 Meter Entfernung Tennis spielte (sie fühlte sich in den Zweiten Weltkrieg zurückversetzt). Ausgiebig wird aus einem Dossier der Staatssicherheit über die SS-Vergangenheit Schleyers zitiert, obwohl die RAF ihn gar nicht deswegen als Opfer einer Entführung ausgewählt hatte. So eröffnen die Autoren mehrfach Nebenhandlungsstränge und verlieren sich in Details und Spekulationen.
Natürlich haben neben wissenschaftlichen Analysen (zu den Ursachen des Linksterrorismus) auch journalistische Darstellungen (über den Ausnahmezustand von 1977) ihre Berechtigung. Doch auch in diesem Genre gelten Standards von Seriosität, Differenzierung, Transparenz und Neutralität. In diesem Buch aber wird allzu oft schwarz-weiß gemalt, um Zustimmung geheischt oder unpassend mit Worten gespielt. Statt die Zuschreibungen von damals zu hinterfragen, werden Allgemeinplätze formuliert. Belege fehlen zudem meist - und souffliert hat den Autoren offenkundig der RAF-Aussteiger Peter-Jürgen Boock, nur wird er nicht immer als Quelle genannt.
Vielleicht wird die Bedeutung von Fernschreiben 827 ohnehin überschätzt. Denn wäre es rechtzeitig berücksichtigt worden, hätte Schleyer vielleicht gerettet werden können, eventuell wäre er bei einer Befreiungsaktion aber auch getötet worden - durch rachsüchtige Terroristen oder Querschläger der Einsatzkräfte. Seine Entführer hätten dann ein paar Jahre früher vor Gericht gestanden und die Stammheimer RAF-Gefangenen sich so oder so in einer ausweglosen Lage befunden. Immerhin wäre dann die Landshut wohl niemals entführt worden, der "Deutsche Herbst" weniger dramatisch verlaufen und dem Buchmarkt ein überflüssiger Band erspart geblieben.
Anmerkung:
[1] Vgl. Tobias Wunschik: Magdeburg statt Mosambique, Köthen statt Kap Verden. Die RAF-Aussteiger in der DDR, in: Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF-Ausstellung, Bd. 2, hg. von Klaus Biesenbach, Göttingen 2005, 236-240.
Tobias Wunschik