Manfred Hettling / Wolfgang Schieder (Hgg.): Reinhart Koselleck als Historiker. Zu den Bedingungen möglicher Geschichten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 461 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-525-31729-7, 65,00
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Reinhart Kosellecks Leben und Werk ist schon mehrfach monografisch dargestellt worden. Aber der vorliegende Band überragt seine Vorgänger doch, sowohl an Umfang als auch an analytischer Tiefe, vor allem, weil viele Beiträge nun auf Kosellecks Nachlässe in Marbach und Marburg zurückgreifen konnten. Der Abstand der Publikation zu Kosellecks Tod 2006 ist günstig gewählt: Noch kommen darin Zeitzeugen zu Wort, die eigene Eindrücke von Koselleck - ergänzend, zum Teil subjektiv gefärbt, aber auch kritisch - zur Sprache bringen. Schon aber können aus Kosellecks allmählich überblickbaren Hinterlassenschaften auch zusammenfassende Schlüsse, Deutungen und weiterführende Überlegungen gezogen werden. Und manche Autoren setzen dabei auch eigene Akzente und Themen. Nicht alles kann hier zur Sprache kommen, nur einiges soll hervorgehoben werden.
Eine beachtenswerte Leistung des Bandes ist schon die Einleitung der beiden Herausgeber Manfred Hettling und Wolfgang Schieder: Noch nirgends ist bislang Kosellecks Biografie und deren Einfluss auf sein wissenschaftliches Œuvre so gründlich aufgearbeitet worden wie hier. Darüber hinaus ziehen die Herausgeber aber auch theoretische und thematische Leitlinien durch das Gesamtwerk, indem sie von seinen Zeiten während des Studiums und der Dissertation nach dem Zweiten Weltkrieg bis in sein Spätwerk so etwas wie die Umrisse einer "Historik" nachzeichnen. Damit allerdings betreten sie ebenso wie manche anderen Beiträge ein kontroverses Feld, was zu Nachfragen führen muss: Denn wollte Koselleck wirklich eine "Historik" im Sinne einer systematisch angelegten Theorie der Geschichte vorlegen? Ist hier etwas unvollendet geblieben, das bei längerer Lebenszeit seine Vollendung hätte finden sollen? Koselleck selbst war, soweit ich sehe, anderer Meinung: Dass sein historisches Theoriegebäude und seine historische Methodenlehre überhaupt abschließbar seien, schien er gerade in seinen späten Jahren stark zu bezweifeln. Seine Schriften und Vorträge, meist essayistisch gefasst, sollten die Geschichte nicht systematisch vermessen, sondern Schneisen durch die historische Wirklichkeit schlagen, als Instrumente dienen, mit denen er die vergangene und gegenwärtige Wirklichkeit zur Sprache bringen beziehungsweise ins Bild rücken wollte. Die geschichtliche Wirklichkeit war für ihn vieldimensional, aber nicht pluralistisch im Sinne einer systematisch erfassbaren Ordnung; und jedenfalls immer mehr, als sich mit den Mitteln der Sprache und des Bildes ausdrücken lässt. Auch manche der hier versammelten Autoren sehen das offenbar anders - und vermissen so, wie zum Beispiel Sebastian Huhnholtz in seinem Beitrag "Die (un-)endliche Geschichte", etwas, was es gar nicht geben kann: "Seine Historik ist oft von ihm in Aussicht gestellt worden [...] und von anderen erhofft oder angemahnt worden. Doch selbst der Nachlass hat nichts Einschlägiges preisgegeben." (371).
In ihrem Beitrag zu Kosellecks Heidegger-Rezeption beschreiben Steffen Kluck und Richard Pohle Martin Heideggers Daseinsanalyse als einen Ausgangspunkt für Kosellecks frühe Geschichtsontologie, in der er diese gewissermaßen historisch modifizierte: Ausgehend von der Einsicht schon des Studenten, dass Heideggers ontologischer Wahrheitsbegriff historisch in der Epoche nach dem Ersten Weltkrieg zu verorten sei, zeichnen sie das geschichtstheoretische Programm Kosellecks durch die folgenden Jahrzehnte nach, das darauf zielte, die transzendentalen Bedingungen jeder historischen Situation in den anthropologisch vorgegebenen Umständen ihres geschichtlichen Auftretens aufzudecken.
Gleich mehrere Beiträge thematisieren Kosellecks, seit Habermas' frühem Verdikt umstrittenes geistiges Abhängigkeitsverhältnis von Carl Schmitt. Der von Jan-Eike Dunkhase umsichtig kommentierte Briefwechsel (Berlin 2019) bietet dafür inzwischen eine wesentlich verbesserte Grundlage: Koselleck als Schmittianer, als Adepten des Meisters zu charakterisieren, so zeigt Christoph Dipper ("Der Gelehrte als Schüler"), würde Kosellecks eigenständiger und in substanzieller Weise von Schmitt auch abweichender Denkweise nicht gerecht werden. Seine lebenslange Wertschätzung für Carl Schmitt implizierte nicht, dass er sich in toto mit Schmitts Positionen identifizierte. Sie bedeutete aber doch, dass er bestimmte politische und wissenschaftliche Positionen mit ihm teilte - nicht nur in seiner Studienzeit, sondern bis zuletzt: so etwa dessen pessimistische Einschätzung der Gegenwart als Zeitalter eines "Weltbürgerkriegs"; oder seine Aufschlüsselung politischer Konstellationen in Form von radikalen Gegensatzpaaren (Freund/Feind, Herr/Knecht).
Bemerkenswert an Dippers durch persönlichen Kontakt lebendigen Beitrag ist aber vor allem seine Darstellung von Kosellecks wissenschaftlichem Ethos, das bisher nur selten angesprochen wurde und doch so zentral für seine Arbeit als Historiker war: Bezogen auf Carl Schmitt verbat ihm schon sein ausgeprägter moralischer Gerechtigkeitssinn, sich aus rein politischen Gründen von Schmitt zu distanzieren, so wie er auch sonst die allgemeine Verstrickung eines Wissenschaftlers ins Dritte Reich dessen wissenschaftlichem Werk nicht moralisch zurechnete. Auch habe er, berichtet Dipper zu Recht, immer Argumente abgelehnt, die in erster Linie politischer Korrektheit entsprangen, und stattdessen immer zwischen politischer Orientierung und wissenschaftlicher Leistung unterschieden. So kannte auch ich ihn: Es sei eine der wichtigsten Aufgaben des Historikers, so höre ich ihn noch sagen, denjenigen in der Geschichtsschreibung eine Stimme zu geben, die keine eigene mehr haben, womöglich nie gehabt haben. Das ist kein von den wissenschaftlichen Thesen zu trennender Umstand. Denn auf ihm beruhte Kosellecks steter Appell an die unmittelbare Evidenz seiner theoretischen Positionen, etwa wenn er die Unmöglichkeit betonte, dem Massensterben in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts einen Sinn einzuschreiben. Solche Positionen zehrten letztlich immer von einer unmittelbaren moralischen Evidenz, die auch ihre weite Akzeptanz ermöglichte.
Reinhard Blänkners Beitrag "Otto Brunner und Reinhard Koselleck. Sprache und politisch-soziale Ordnung" rückt dankenswerterweise das verbreitete Missverständnis zurecht, Brunner habe auf naive Weise an die Möglichkeit geglaubt, man könne vergangene Epochen einfach im Medium ihrer eigenen Begrifflichkeit darstellen. Seine Beobachtungen greifen jedoch auch darüber hinaus auf grundsätzliche Probleme der Begriffsgeschichte durch, indem sie zum Beispiel auf das Vexierspiel aufmerksam machen, das jede Begriffsgeschichte mit Grundbegriffen treibt, wenn sie diese einerseits in ihrem geschichtlichen Bedeutungswandel untersucht, andererseits aber auch als kategorielle Beschreibungsbegriffe diesem Wandel gerade entzieht.
Wolfgangs Schieders Beitrag "Werner Conze und Reinhart Koselleck. Zwei begriffsgeschichtliche Konzeptionen in den Geschichtlichen Grundbegriffen" besticht durch seine Augenzeugenschaft in der Entstehungsphase des Lexikons in den 1960er Jahren. Schieder zeigt, wie brüchig dieses Unternehmen angesichts der unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten seiner Herausgeber lange Zeit war und wie skeptisch das Urteil vieler Kollegen. Erklärte doch selbst ein naher Kollege in Bielefeld wie Hans-Ulrich Wehler noch 1979, die Begriffsgeschichte "werde schon auf mittlere Sicht in die historistische Sackgasse führen und von den ungelösten Realproblemen der Sozialgeschichte weiter ablenken". [1]
Auch Jürgen Kocka, eine weitere Leitfigur der sogenannten Bielefelder Schule, betont in seinem Beitrag, bei allem Respekt gegenüber Kosellecks Quellenkenntnis und Theorieinteresse, vor allem die Defizite von Kosellecks Preußenbuch - dessen etatistischen Blick "von oben" und die zeitlichen und räumlichen Grenzen seiner Darstellung. Nicht zur Sprache kommen bei ihm allerdings Differenzen, die aus Kosellecks Sicht vielleicht schwerer gewogen hätten: so vor allem sein Rekurs auf die Sprache, die Bilder und Skulpturen, die Koselleck als essentiell wichtige Dimensionen sozialgeschichtlicher Analysen stark machte. Das ist kein Zufall: Begriffsgeschichte hatte für die Bielefelder Kollegen immer nur die Bedeutung einer intellektuellen Fingerübung, die man, inhaltlich relativ folgenlos, auf die Einleitung sozialgeschichtlicher Untersuchungen begrenzen könne.
Manfred Hettlings Studie "'Identitätsstiftung' eines 'Überlebenden'?" bietet über eine kenntnisreiche und subtile Darstellung von Kosellecks "Strukturanalysen des politischen Totenkults" eine hilfreiche Rekonstruktion der politisch-sozialen, ästhetischen und anthropologischen Bedingungen möglicher Todesdenkmale. Sie grenzen, wie Hettling zeigt, die Eigenart einzelner Denkmale ein, vermögen diese allerdings nicht vollends aufzuklären.
Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich, beide überaus innovativ, mit Kosellecks Bildtheorie und Fotosammlung. Man sollte den zweiten von Tobias Weidner zuerst lesen, weil er den Boden bereitet für die anspruchsvollen theoretischen Beobachtungen des ersten von Bettina Brandt und Britta Hochkirchen. Weidner interessieren zunächst die unterschiedlichen "Blicke" Kosellecks auf seine Objekte: den "touristischen", "kollektiven" und schließlich "künstlerischen Blick". Dadurch gewinnt er - anders als Reinhart Mehring in seinem späteren Beitrag "Negativer Kantianismus" - auch den technischen Unvollkommenheiten vieler Fotografien noch einen Kunstsinn ab. Darüber hinaus kommt es Weidner aber vor allem darauf an, "Überlappungen" und damit Analogien zwischen Kosellecks Bild- und Sprachanalysen und der historischen Wirklichkeit herauszuarbeiten: dessen Interesse an Perspektiven, Zeitstrukturen, Gegensätzen und Dynamiken, die sich im schriftlichen wie in seinem Bild-Werk finden lassen.
An dieser Stelle knüpft der Aufsatz von Bettina Brandt und Britta Hochkirchen "Bilder als Denk- und Erfahrungsraum möglicher Geschichten im Werk Reinhart Kosellecks" an. Er will Kosellecks Verständnis von Bildern und Begriffen im Rahmen einer umfassenden Theorie politischer Sinnlichkeit begreifen, und zwar nicht nur als parallele Anstrengung, sondern als Einheit: Begriffe sind Bilder, Bilder Begriffe, so könnte man ihre These überspitzt und vereinfachend betiteln. Den Nachweis führen die beiden Autorinnen anhand der Synchronizität historischer Zeitstrukturen, die Koselleck nicht nur in Texten, sondern ebenso auch in Bildern nachgewiesen habe. Dabei, so ihre These, komme im Bild das zum Ausdruck, was die Sprache in ihrem diskursiven Aufbau nicht ausdrücken könne. Der Nachweis erscheint mir ebenso kühn wie die These selbst, und bedarf daher einer ausführlicheren Diskussion, als sie hier möglich ist.
Nimmt man den 450 Seiten starken Band insgesamt in den Blick, so belegt er die weiterhin ungebremste Dynamik, mit der Koselleck von seinen Anfängen im Stimmennetz seiner frühen Heidelberger Bezugspunkte über die Aufnahme, die seine Arbeiten bei Kollegen und Schülern fand, bis hin zu den konstruktiv-kritischen Versuchen, seine Hypothesen und Theorieangebote weiterzudenken, bis in die Gegenwart hineinwirkt. Dabei waren es, dies sei am Ende noch angemerkt - und jeder, der Koselleck persönlich kannte, wird mir darin zustimmen - sicher nicht allein die theoretischen Positionen als solche, die die Attraktivität seiner meist essayistisch verschriftlichten Argumentationen ausmachten, sondern neben deren metaphorischer Sprache, die stets Spielräume für Deutungen ließ, auch der beträchtliche intellektuelle Charme, mit dem Koselleck seine Gesprächspartner zu umgarnen verstand, und nicht zuletzt auch der Eindruck moralischer Integrität, auf dem die Überzeugungskraft seiner Argumente beruhte. Von ihr zeugt schon allein die Fülle der Stimmen, die sich in diesem Band versammelt haben.
Anmerkung:
[1] Hans-Ulrich Wehler: Geschichtswissenschaft heute, in: Stichworte zur 'Geistigen Situation der Zeit', Bd. 2: Politik und Kultur, hg. von Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 1979, S. 709-753, hier S. 725.
Lucian Hölscher