Rezension über:

Adeline Mueller: Mozart and the Mediation of Childhood (= New Material Histories of Music), Chicago: University of Chicago Press 2021, XIII + 287 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-0-226-62966-7, USD 55,00
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Rezension von:
Jan-Friedrich Missfelder
Departement Geschichte, Universität Basel
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Jan-Friedrich Missfelder: Rezension von: Adeline Mueller: Mozart and the Mediation of Childhood, Chicago: University of Chicago Press 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/09/36266.html


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Adeline Mueller: Mozart and the Mediation of Childhood

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In diesem Buch geht es nicht um Mozart - zumindest nicht in erster Linie. In diesem Buch geht es um die Geschichte der Kindheit im späten 18. Jahrhundert, für die, so die These der Autorin, Wolfgang Amadeus Mozart eine entscheidende Rolle spielt: "a pivotal figure in the history of childhood, and not just of music". (3) Diese Rolle besteht in seiner Funktion als Akteur und Objekt von "mediation". Der titelgebende Begriff wird zwar nirgends eigens theoretisch reflektiert oder gar definiert, doch wird seine analytische Kraft hinreichend klar. "Mediation" zielt sowohl auf pädagogische, politische, kulturelle und gesellschaftliche Konzepte von Kindheit in der Aufklärung als auch auf deren mediale Implementierung und Repräsentation. In diesem Sinne kommt Mozart eine doppelte Funktion zu. Einerseits erscheint er als "event in the history of the mediated child" (3), andererseits selbst als paradigmatische Figur, als "the quintessential mediated child". (2) An Mozart, so die forschungsleitende Hypothese der Autorin, lassen sich aufklärerische Debatten darüber, was ein Kind sei, welche agency ihm zukomme und welche gesellschaftlichen Rollen es zu erfüllen habe, in besonders prägnanter Form aufzeigen. In diesem Sinne analysiert Adeline Mueller Mozart als Medienereignis: sowohl als Gegenstand medialer Reflexion als auch als "Marke" im Medien- und Musikalienmarkt seiner Zeit. Diese Fragestellung hat eine Art Triangulierung der Perspektive zur Folge. Das Buch möchte durch Aufmerksamkeit auf öffentliche Debatten über Mozart als "public child" (4) zur Geschichte der Kindheit, über Aufmerksamkeit auf die sozialen Funktionen von Musikdrucken und Musikerportraits zur Mediengeschichte sowie über die philosophische, politische und pädagogische Kontextualisierung der Mozartwahrnehmung zur Mozartforschung selbst beitragen.

Eingelöst wird dieses ambitionierte Programm am besten im fulminanten ersten Kapitel zur medialen Konstruktion des "Wunderkinds" Mozart. Am Beispiel der Publikationsgeschichte von dessen allerersten, im Alter von sieben Jahren gedruckten Werken und frühen Portraits der Mozart-Familie kann Mueller einen komplexen "cross-promotional marketing effort" (19) identifizieren, der das Kind Wolfgang (und in geringerem Maße auch seine Schwester Nannerl) gerade nicht als Wunder inszenierte, sondern als vernunftbegabten und kreativen musikalischen Akteur. Die Autorin setzt diesen Befund in Bezug zu zeitgenössischen Diskursen über Mündigkeit und Rationalität von Kindern, vergleicht den Fall der Mozarts mit anderen Wunderkindern seiner Zeit und kommt schließlich zum Schluss, dass diese "?u?nlike child saints ?...? were presented as imitable, models as opposed to marvels." (30) An Mozart und anderen Wunderkindern der Aufklärung zeigte sich das menschliche Potential für Vernunft und Kreativität geradezu paradigmatisch. Gerade durch den Druck der Werke wurde Mozart eine musikalische Expertise attestiert, die im Verhältnis der Werke zum kindlichen Alter ihres Produzenten gerade nicht das Wunderbare erblickte, sondern kompositorische Könnerschaft und kreative agency.

Dieses erste Kapitel des Buches sticht deshalb heraus, weil es Adeline Mueller hier hervorragend gelingt, ideen- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge direkt auf konkrete, auch mediale Praktiken des musikalischen child-fashioning zu beziehen. Die folgenden Kapitel treiben diesen Kontextualisierungsimperativ sehr viel weiter, so dass teilweise der Eindruck entstehen kann, Mozart und seine Musik fungieren überwiegend als Stichwortgeber für Tiefenbohrungen in die Geschichte theresianischer oder josephinischer Kindheitsdiskurse. Dies betrifft etwa das für sich genommen überaus instruktive Kapitel 3 zu Kindertheatertruppen auf habsburgischen Bühnen. Muellers Versuch, Mozarts frühe Singspiele (Apollo et Hyacinthus, Bastien et Bastienne, Zaïde) mit den Aktivitäten dieser Truppen in Verbindung zu bringen, kommt kaum über kontrollierte Spekulation hinaus. Es geht der Autorin aber auch gar nicht darum, werkgenetische Thesen aufzustellen. Vielmehr steckt sie hier wie auch in zwei Kapiteln zur pädagogischen Funktion von Kinderliedern einen gesellschaftlichen Horizont ab, in welchen Mozart musikalisch mal intensiver, mal peripherer intervenierte. Dabei nimmt sie durchaus dessen ganze Musikerpersönlichkeit über das Kindesalter hinaus in den Blick und zeigt, dass Mozart auch während seines (bekanntlich nicht allzu langen) Erwachsenenlebens an der "mediation" von Kindheit teilhatte. Dies kann Adeline Mueller überzeugend am Beispiel des Konzertes für drei Klaviere, einer Klaviersonate zu vier Händen sowie dem Konzert für Flöte und Harfe auch musikanalytisch zeigen. Sie liest diese Werke als "musical family portraits" (143), in denen die sozialen Dynamiken und Machtbeziehungen zwischen Geschwistern ebenso wie zwischen Eltern und Kindern musikalisch ausgehandelt werden.

Abschließend widmet sich die Autorin der Mozartrezeption seit dem frühen 19. Jahrhundert in Biographik und musikalischer Praxis. Dabei diagnostiziert sie eine Verschiebung von einer zeitgenössischen Wahrnehmung des Komponisten als "schwierig" hin zum kindlichen Genie, dessen Werke durch vielfältige Adaptationen und Überarbeitungen in Unterrichtswerken und Instrumentalschulen gleichsam mitinfantilisiert wurden. "Mozart made easy" (187 u.ö.) kann seit dem 19. Jahrhundert als diskursive Strategie des re-fashioning des Komponisten als ewigem Kind gelten, die tendenziell bis heute anhält. Sie steht dabei in eklatantem Widerspruch zur aufklärerischen Konzeption eines puer doctus. Dass die Autorin abgesehen von einem kurzen Rückblick auf diese Diskursformation auf der allerletzten Druckseite auf ein synthetisierendes Schlusskapitel verzichtet, ist angesichts der Vielfalt und Komplexität der von ihr angesprochenen Zusammenhänge schade. Ihre Grundthese aber, dass sich in Mozart ein spezifisch aufklärerisches Paradigma des Kindlichen in besonderer Prägnanz artikuliert, überzeugt dadurch nicht weniger. Adeline Mueller hat ein sehr anregendes und lesenswertes Buch über Mozart geschrieben, in dem es um sehr viel mehr geht als um Mozart.

Jan-Friedrich Missfelder