Alexis Joachimides: Die Ästhetik der Stadt. Städtebau in Bordeaux und Edinburgh 1730-1830, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2021, 248 S., 100 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-98247-5, EUR 54,00
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Auf dieses Buch habe ich mich sehr gefreut - und ich bin nicht enttäuscht worden. Alexis Joachimides' Studie über den Städtebau in Bordeaux und Edinburgh im Zeitalter der Aufklärung behandelt ein ganz zentrales Thema der europäischen Städtebaugeschichte, das in der deutschen Kunstgeschichtsschreibung zuletzt viel zu wenig Aufmerksamkeit erhielt: den Ausbau der Städte im 18. Jahrhundert unter dem Leitbild des "embellissement". Zwischen den absolutistischen Residenzstadtplanungen und den großen Stadterweiterungen der Industrialisierung fristete dieses Phänomen ein Nischendasein, das ihm nicht angemessen ist. Eindrücklich kann Joachimides aufzeigen, dass in der Zeit des "embellissement" die Stadt in umfassender Weise durchdacht und in dieser "aufgeklärten" Weise neu konzipiert wurde. Dieser umfassenden historischen Konzeption des "embellissement" aus einem Zusammenspiel ökonomischer, gesellschaftlicher, politischer und ästhetischer Intentionen entspricht kongenial die Darstellungsweise von Joachimides, der in vorbildlicher Weise alle diese Aspekte des Städtebau berücksichtigt, die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen ausführlich schildert - und dabei nicht die ästhetische Analyse der Stadträume, Bauten bis hin zu Fassadenanalysen vernachlässigt, sondern die Themen in überzeugender Weise verbindet.
An den Beispielstädten Bordeaux und Edinburgh - in dieser Zeit beide keine Hauptstädte, sondern regionale Verwaltungszentren und Handelsstädte - wird zudem deutlich, wie sehr die Planungsmaßnahmen des "embellissement" von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen und Interessen getragen wurden und wie pragmatisch - bei aller neuen theoretischen Durchdringung - sie in der Realentwicklung der Städte verankert waren. Wie wegweisend die Erweiterungen dieser ohnehin nicht mehr kleinen Städte im Hinblick auf die Großstadtbildung im nachfolgenden Zeitalter der Industrialisierung waren, wird besonders eindrücklich deutlich an der Entwicklung des Geschosswohnungsbaus, mit dem ein Bautyp für eine wachsende städtische Mittelschicht jenseits des Bürgerhauses und des Adelspalais geschaffen wurde, der seither dominant für städtische Häuser ist.
Zwei Städte miteinander zu vergleichen, ist eine naheliegende Methode, wenn diese Städte historisch in Beziehung gestanden oder sich gar in Konkurrenz miteinander entwickelt haben. Paris und London sind so ein Paar, auch Wien und Berlin sind da beliebt. Martin Warnke hat für Architekturen gar das Modell von "Bau und Gegenbau" entworfen. Doch Bordeaux und Edinburgh? Joachimides konstatiert selbst, dass diese Städte im 18. Jahrhundert keinen Bezug aufeinander genommen haben - insofern erscheint die Konstellation willkürlich. Umgekehrt benennt Joachimides eine Reihe von Ähnlichkeiten, die einen Vergleich fruchtbar erscheinen lassen: Insofern ist die Konzeption der Studie eine zwar vom Autor frei konstruierte, aber durchaus legitime Versuchsanordnung.
Und das Versuchsergebnis? Zum einen handelt es sich tatsächlich um zwei Bücher in einem. Mit den höchst detaillierten, quellenbasierten Darstellungen der städtebaulichen und architektonischen Entwicklungen von Bordeaux und Edinburgh zwischen 1730 und 1830 hätte die Studie auch gut und gerne in zwei Büchern erscheinen können. Um diesem Eindruck entgegenzuwirken, hat Joachimides die jeweilige Stadtgeschichte nicht gesamt geschildert, sondern die Epoche in drei Zeitabschnitte aufgeteilt, in denen jeweils beide Städte dargestellt werden. Somit lassen sich zeittypische Phänomene zwar besser vergleichen, die kontinuierliche Entwicklung vor Ort wird aber auseinandergerissen. Ich muss gestehen, dass mir die Ortskontinuität wichtiger war als die Zeitkongruenz und ich nach dem ersten Kapitel erst einmal die Erzählung von Edinburgh zu Ende gelesen, bevor ich dann Bordeaux nachgeholt habe. Insofern ist es der Leserin und dem Leser freigestellt, ob sie oder er eher ortsmonographisch oder epochengebunden interessiert ist.
Zum anderen wird erst durch die Untersuchung beider Städte ein internationaler Vergleich möglich, der die gerade in Frankreich und Großbritannien sehr national ausgerichteten Kunstgeschichten überwindet und gerade dem Städtebau der Aufklärung mit - wie Joachimides zeigen kann - seinem kosmopolitischen Weltverständnis und seinem universal verstandenen Klassizismus bestens entspricht. Bei den zum Teil sehr unterschiedlichen ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen ist es umso eindrücklicher zu sehen, wie sehr ästhetische Ideale von gerader und geometrischer Straßenführung bis zum homogenen Stadtbild durch einheitliche, das einzelne Haus übergreifende Fassadenkompositionen prägend waren. In dieser Hinsicht zahlt sich die bifokale Konzeption der Studie, die im Text durch weitere internationale Vergleiche wie Lissabon, Turin oder Berlin auch angemessen erweitert wird, gewinnbringend aus.
Wie fundamental dieses Buch für eine kunstgeschichtliche Städtebaugeschichte ist, zeigt sich auch darin, dass bislang weder über Bordeaux noch über Edinburgh deutschsprachige Studien in entsprechendem Umfang vorliegen und dass beispielsweise für Edinburgh nach wie vor das Buch von Alexander Youngson aus dem Jahr 1966 grundlegend ist. Dabei bleibt naturgemäß auch Raum für weitere Fragen. So scheint mir nach wie vor ungeklärt, wie James Craig bei seinem Plan für die New Town in Edinburgh von 1766 auf seine außergewöhnliche hybride Blockkonzeption kam, bei der der Block nicht nur von einer Lane durchzogen wird, sondern von einer weiteren öffentlichen Street, hinter die dann zwei Lanes gelegt sind. Diese außergewöhnliche Erfindung eines dreistufigen Erschließungssystems, durch das der gewöhnliche städtische Block zum Superblock wird und das zunächst kaum weitere Nachfolge gefunden hat, wäre weitere Nachforschungen wert.
Zu den Stärken des Buchs zählen auch die thematischen Kapitel, die Joachimides als Exkurse zwischen die Darstellungen der einzelnen Zeitabschnitte gestellt hat und in denen er zentrale Phänomene des jeweiligen Städtebaus vertiefend untersucht. Das ist zum einen das Ideal der offenen, nicht mehr durch eine Befestigung begrenzten Stadt, die sich zum Landschaftsraum öffnet, bzw., wie Joachimides zeigt, auch in neuer Weise aus dem Landschaftsraum wahrgenommen wird. Deutlich wird hierbei, wie weit vor den bekannten europaweiten napoleonischen Stadtentfestigungen dieses Ideal in Großbritannien und Frankreich ausgeprägt wurde. Hier ließen sich auch noch die Pariser Boulevards auf den ehemaligen Befestigungsanlagen unter Ludwig XIV. oder die Turiner Stadtrandplätze von Filippo Juvarra anführen. Überzeugend wird auch der Kosmopolitismus in seinen ökonomischen und philosophischen Ausprägungen thematisiert, dem so konsequent der universale Klassizismus entspricht. Das Ende der Epoche mit einer Zunahme regionaler Stilbezüge im Zuge nationaler Identitätsbildungen in Verbindung zu bringen, ist sicherlich eine zutreffende Erklärung. Allerdings fällt dabei unter den Tisch, dass der universal gedachte Klassizismus gerade in Frankreich teilweise programmatisch weiterverwendet wird und in der Großstadtreform Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa und den USA zu neuer Blüte gelangt. Um 1830 eine Grenze zu setzen, bietet die Industrialisierung mit ihren Anforderungen an ganz neue Dimensionen der Stadterweiterung sicher eine weitere wichtige Rechtfertigung.
Auch viele interessante Details - nicht selten in den umfangreichen Ausführungen versteckt - bleiben in Erinnerung, wie etwa das Plädoyer für eine unregelmäßigere, dem Terrain entsprechendere Straßenführung mit einem malerischeren Stadtbild, das der Glasgower Architekt William Stark 1814 für die neuen Planungen in Edinburgh abgibt. Oder die Einheitlichkeit des Stadtbildes durch eine hausübergreifende Fassadenplanung - von Joachimides etwas irritierend als "Programmfassade" bezeichnet -, die in beiden Städten weniger aus behördlichen Vorgaben als durch die Publikums- und Marktorientierung von Bauunternehmen entsteht.
Die Informationsfülle ist in ein vergleichsweise schlankes und damit handliches Buch gegossen, das mit seinen zweispaltig vollgedruckten Seiten zum intensiven Studium verleitet. Es ist nicht üppig, aber ausreichend und sehr angemessen für das Textverständnis bebildert. Die Entscheidung, auch heutige Fotografien der Städte nicht farbig, sondern schwarz-weiß zu drucken, mag vielleicht budgetär begründet sein, erzielt aber eine hohe ästhetische Kohärenz des Buches, bei der die aktuellen Fotografien gut mit den ohnehin schwarzweißen zeitgenössischen Plandarstellungen harmonieren. Besonders sinnvoll und gelungen ist die Ausnutzung des großen Formats für die doppelseitige Darstellung der Stadtpläne jeweils zu Beginn eines Kapitels: Hierdurch wird die im Text beschriebene Stadtentwicklung nicht nur für die Leserin und den Leser detailliert nachvollziehbar, sondern die Bilder erhalten neben ihrer illustrierenden Dienstleistungsfunktion auch ein künstlerisches Eigenrecht.
Mit Joachimides' Studie wird eine Tradition der deutschsprachigen kunstgeschichtlichen Städtebaugeschichtsschreibung auf den Schultern eines Albert Erich Brinckmann und eines Wolfgang Braunfels kenntnisreich und aspektübergreifend fortgesetzt - eine Tradition, die es wert ist, neben bildwissenschaftlichen Schwerpunkten und allen möglichen fachexternen turns ihren Platz in kunstgeschichtlichen Lehrcurricula und Forschungsprojekten zu behalten oder wiederzugewinnen.
Wolfgang Sonne