Irmgard Scheitler: Opitz musikalisch. Text und Musik im 17. Jahrhundert (= Hiersemanns bibliographische Handbücher; Bd. 26), Stuttgart: Anton Hiersemann 2021, 400 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-7772-2132-8, EUR 248,00
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Die Verdienste von Martin Opitz (1597-1639) um die Etablierung einer nationalsprachlichen Lyrik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind unbestritten. Die Germanistin Irmgard Scheitler überrascht nun mit ihrem profunden Buch, da sie bisherige germanistische Überlegungen verwirft, dass Opitz seine deutschsprachige Dichtung ähnlich wie die lateinische Humanistendichtung rein literarisch "als Buchlyrik" (17) verstanden wissen wollte. Diese germanistische Betrachtungsweise war von der Musikwissenschaft ungeprüft übernommen worden, die Opitz unterstellte, er habe die Musik verachtet. Scheitler führt solche Fehlurteile auf den fehlenden Austausch zwischen den Fächern Germanistik und Musikwissenschaft zurück, die gemeinsam dieses Thema bearbeiten müssten. Aufgrund umfangreicher Recherchen und feinsinniger Beobachtungen anhand zahlreicher Quellen des 17. Jahrhunderts kommt sie hingegen zu der These, "dass das lyrische Werk des 'Vaters der deutschen Dichtkunst' nicht zuletzt, ja vielleicht sogar vornehmlich durch Gesang verbreitet wurde und durch Gesang noch lange weiterlebte." (8) Scheitler setzt sich das Ziel, "der Literatur- und Musikwissenschaft ein Repertorium der gesungenen Opitzlyrica vorzulegen." (17) Allerdings will sie nicht nur ihre Recherchen präsentieren, sondern diese auch entsprechend kontextualisieren.
Dementsprechend ist das Buch in vier große Kapitel gegliedert: Das erste Kapitel "Grundsätzliches" (7-56) wird durch einen Abschnitt "Opitz und die Musik - ein Missverhältnis?" eröffnet (8-19), in dem Scheitler ihre These und die entsprechenden Informationen zum Forschungsstand vorträgt. Eindrücklich verweist sie dabei auf die Quellenlage, die für die geistlichen Dichtungen des in Bunzlau geborenen Dichters zahlreiche bisher wenig beachtete Notendrucke bietet. Für die weltlichen Dichtungen fehlen hingegen häufig Hinweise auf die Singweise. Dieser Umstand könnte möglicherweise gerade wie eine Aufforderung zur Vertonung gewirkt haben. Der zweite Abschnitt dieses Kapitels mit dem Titel "Opitz und das Lied seiner Zeit" (20-56) dient der terminologischen Präzisierung und historischen Kontextualisierung der Problemstellung. Damit soll das opitzsche Werk "in die Geschichte des deutschen Liedes" (20) eingezeichnet werden. Während Lied und Ode gleichbedeutend sind, "bezeichnet 'Arie' die Melodie" (21). Weiterhin geht Scheitler auf "Textformen und Musikformen", "das Kontrafakturproblem", Unterschiede zwischen Volks- und Kunstlied, "die rhythmische und melodische Wort-Text-Beziehung", "Medien der Verbreitung", die Bedeutung des Liedes im 17. Jahrhundert sowie "Schwerpunkte und Grenzen der Rezeption" ein. In beeindruckender Konsequenz ist dieser Abschnitt aus den Quellen gearbeitet.
Im 2. Kapitel untersucht Scheitler die "Liederbücher" (57-102). Der lutherisch erzogene Opitz kannte und schätzte die Melodien des reformierten Genfer Psalters und schrieb viele seiner lyrischen Werke auf diese Melodien. Obwohl der Dichter seinen konfessionellen Standpunkt nie verließ, dachte er jedoch nicht in konfessionellen Grenzen. Die Hintergründe dafür dürften in seiner Studienzeit in Heidelberg und seinem Aufenthalt in den Niederlanden liegen. Die Epistellieder von 1628 sowie zahlreiche kleinere Sammlungen bis 1637 stellen Bereimungen der Melodien des Genfer Psalters dar. Scheitler zeigt an Beispielen, "dass Opitz von der Melodie her dachte, nicht etwa vom Strophenmuster" (86), was sie für eine erhebliche "musikpoetische Leistung" (87) hält. Ähnlich verhält es sich bei den Psalmen Davids von 1637. Etwas freier verfuhr Opitz in seiner Versifizierung des Hohenliedes von 1627.
Kapitel 3 bietet das "Repertorium" (103-306), in dem Scheitler 135 "lyrische Texte von Opitz, zu denen Melodien vorliegen" erfasste. Als zeitlicher Rahmen wurde das 17. Jahrhundert gewählt. Die Texte werden in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt. Die Verfasserin bespricht jedes Lied, transkribiert die Melodie, bietet Hinweise zu Neuvertonungen oder Parodien. Die große wissenschaftliche Leistung dieses Repertoriums, das auf einer gründlichen quellenkritischen Arbeit beruht, wird durch das vierte Kapitel "Quellen" unterstrichen (307-373). Zunächst werden (gedruckte) "Autorenliederbücher von Komponisten", dann solche "von Dichtern" aufgeführt. Weiterhin wurden "Instrumentalquellen und handschriftliche Liedsammlungen", weitere Einzeldrucke sowie Gesangbücher, darunter die weit verbreitete "Praxis Pietatis Melica" von Johann Crüger, ausgewertet. In einem "Anhang" (376-400) werden Sigeln aufgelöst, Literatur benannt sowie "Aufstellungen und Register" geboten. Gezielt lässt sich so nach den Epistelliedern und den Psalmen Davids, nach Namen und Incipits suchen (389-400).
Irmgard Scheitler hat ein in jeder Hinsicht wunderbares Buch vorgelegt. Die Freude der Benutzung beginnt bei dem wohlproportionierten Satz und dem augenfreundlichen Papier. Schon deshalb nimmt man das Buch gern zur Hand. Die Lektüre ist für fachfremde Leser und Leserinnen möglicherweise herausfordernd, da Scheitler wenig allgemeines Hintergrundwissen liefert. Sie ist immer konkret und an den Quellen orientiert und schreibt in einem flüssigen wissenschaftlichen Stil, der Freude bereitet. Durchgängig wird so deutlich, dass sie eine in der bisherigen Forschung verbreitete Fehldeutung korrigieren und durch eine eigene, fundierte These ersetzen möchte. Die Anmerkungen werden nicht unnötig aufgebläht, um die Belesenheit der Autorin zu demonstrieren, sondern beschränken sich auf die nötigsten Hinweise. Das Buch dürfte nicht nur für musikwissenschaftlich oder germanistisch Interessierte aufschlussreich sein. Vielmehr bietet es nicht nur ein mustergültiges methodisches Vorgehen im Hinblick auf den Umgang mit historischen Quellen, sondern zugleich geistesgeschichtliches Basiswissen für das Verständnis von Poesie und Musik im 17. Jahrhundert. Wiederholt weist Scheitler darauf hin, dass manches Wissen den Menschen dieser Zeit selbstverständlich war, das heute verloren ist. Wer mehr über diese vergangene Welt erfahren möchte - z.B. das Singtempo von Kirchenliedern (44) oder den Charakter der Tonarten (65) - wird durch die Lektüre dieses Buches reich belohnt.
Stefan Michel