Ines Soldwisch: Das Europäische Parlament 1979-2004. Inszenierung, Selbst(er)findung und politisches Handeln der Abgeordneten (= Forum historische Forschung: Moderne Welt), Stuttgart: W. Kohlhammer 2021, 302 S., ISBN 978-3-17-040068-9, EUR 59,00
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In der historischen Forschung stand das Europäische Parlament (EP) bisher nicht im Mittelpunkt, sodass Ines Soldwisch mit ihrer Untersuchung, die - ausgehend von der ersten Direktwahl 1979 - die fünf folgenden Legislaturperioden abdeckt, eine große Lücke zu füllen versucht. Ihr Ausgangspunkt sind die Abgeordneten im Parlament, was Soldwisch soziologisch begründet: "Mir geht es darum, aus einer praxeologischen Perspektive heraus darzulegen, was die Abgeordneten selbst aus ihrer europäischen Versammlung gemacht haben". (35)
Das Werk ist chronologisch unterteilt in einen ersten Teil, von 1979 bis in die 1990er-Jahre, und einen zweiten, ab Kapitel 7, der den Zeitraum bis 2004 behandelt. Beide Abschnitte sind symmetrisch aufgebaut: Auf Ausführungen zur Unterbringung und zu den Gebäuden des EP, strukturellen Fragen und Entwicklungen des Parlaments, die etwa auf die sich stetig ändernden Geschäftsordnungen zurückzuführen sind, folgt ein Überblick zu den Abgeordneten sowie eine abschließende Vorstellung der jeweiligen Parlamentspräsidenten.
Einleitend skizziert Soldwisch knapp die Entwicklung von der parlamentarischen Versammlung der Montanunion 1951 über die Entstehung der EWG bis zum heutigen "eigenständigen Player in der Europapolitik" (47). Trotz seines zunächst geringen Einflusses auf die politische Agenda verstand sich das EP stets als "Motor" (40) der europäischen Einigung. Die Formung und Ausprägung dieser Rolle erläutert Soldwisch dann anhand der "Gebäude" und unterschiedlichen Arbeitsorte des EP, in Kapitel 3 zunächst bezogen auf die früheren Aufenthaltsorte des Parlaments als "Gäste" beim Europarat und in Kapitel 7 dann noch einmal mit Blick auf die in den 1990er-Jahren neu entstandenen eigenen Parlamentsgebäude. Die Architektur spielt - neben der Feststellung, dass das ständige Wechseln des Arbeitsortes als "zeitraubend und ineffektiv wahrgenommen" (284) wurde - bei der Analyse im Fazit zu der Symbolkraft der EP-Gebäude eine zentrale Rolle: Das von außen gläserne Louise-Weiss-Gebäude in Straßburg sollte "Transparenz und Offenheit" symbolisieren, führte aber bei den Abgeordneten zu einer "Isolation hinter Glasfassaden" (216), welche diese positive Aussagekraft untergrabe.
Die weiteren Kapitel ergründen, was in dem 25-jährigen Untersuchungszeitraum tatsächlich in diesem multilingualen, transnationalen Parlament passiert ist. Dabei werden sowohl statistische Fakten ausgewertet, etwa in den Kapiteln zum Durchschnittsalter oder zum Geschlechterverhältnis, als auch ein geschärfter Blick auf einzelne Akteure geworfen: Die ersten sechs Präsidenten beziehungsweise Präsidentinnen des EP von 1979 bis 1994, beginnend mit Simone Veil, werden anhand ihrer Wahl und Eröffnungsreden im 6. Kapitel vorgestellt; die übrigen Präsidentinnen und Präsidenten ab 1994 im 10. Kapitel.
Die größten Veränderungen kamen auf die Abgeordneten durch die große Geschäftsordnungsrevision 1981 und nach dem Vertrag von Maastricht 1993 zu ("Nach Maastricht war eben alles anders" (253)). So konstatiert Soldwisch eine grundlegend neue Erfahrung: Während zu Beginn die MdEP trotz des "ersten Einzug[s] rechter Parteigruppierungen" (133) zum großen Teil der EU zugeneigt waren, "brach diese pro-europäische Gemeinschaft" (282 f.) im Laufe der 1990er-Jahre sukzessive auf.
Die Entwicklung des EP versucht Soldwisch auch anhand der Antrittsreden der Präsidenten und Präsidentinnen zu ergründen: Nach dem Vertrag von Maastricht scheint das Parlament mit seinen erweiterten Befugnissen - es wurde im Verhältnis zu Rat und Kommission eine Institution auf Augenhöhe und konnte seitdem die Kommission per Misstrauensvotum abwählen, hatte gleichzeitig aber auch mehr Aufgaben zu bewältigen - zufrieden zu sein und möchte nun "dieses Mehr an Rechten, Verantwortung und Akzeptanz selbstbewusst bewahren und ausfüllen" (280). Ein an dieser Stelle angebrachter Ausblick darauf, dass sich diese Befugnisse mit dem 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon nur wenige Jahre nach Ende des Untersuchungszeitraumes erneut bedeutend ändern sollten, wird dem Leser nicht geboten. Die Fraktionen und ihre Entwicklungen werden dagegen nur recht kurz und überblicksartig erwähnt und hauptsächlich im Hinblick auf ihre Organisationsstrukturen und Aufgaben bewertet.
Bei der Darstellung der Quellen verweist Soldwisch auf ihre Forschung in den Archiven in Florenz und Luxemburg. Zudem hat sie unterschiedliche weitere Quellen hinzugezogen und "internationale Zeitungen, internationale Architekturzeitschriften, [...] Reiseführer, [...] Biografien" (24f.) ausgewertet. Ihren Verzicht auf die Durchführung von Zeitzeugeninterviews begründet Soldwisch damit, "einen möglichst unabhängigen Blick auf die Geschichte des EP [...] werfen" (28) zu wollen, und weist darauf hin, dass diese nicht die tatsächlichen Ereignisse wiedergeben würden. Gleichzeitig bemängelt sie, weniger Material als gewünscht für die Auswertung zur Verfügung gehabt zu haben (28). In einer historischen Studie, die Akteure in den Blick nehmen will und einzelnen Exponenten wie den Parlamentspräsidenten eigene Kapitel widmet, wirkt diese Begründung, welche suggeriert, dass Zeitzeugeninterviews einer unabhängigen Darstellung im Wege stünden, wenig nachvollziehbar, zumal nicht weniger subjektiv eingefärbte Autobiographien einzelner Akteure durchaus zitiert werden. Einblicke in das Agieren der Abgeordneten oder das Innenleben der Fraktionen werden daher lediglich punktuell oder an der Oberfläche geboten.
Die Entwicklung des Europäischen Parlaments in den letzten Jahrzehnten "von einer diskutierenden Versammlung zu einem Entscheidungsgremium" (285) und hin zu einem emanzipierten Machtzentrum in der EU (285) ist beachtlich und eine historische Untersuchung, wie es dazu kommen konnte, von großem Interesse. Eine tiefgehende Analyse bietet Soldwisch hier aber nur in einigen ausgewählten Bereichen, wie der Arbeitssituation oder den Antrittsreden und dem Selbstverständnis der Präsidentinnen und Präsidenten. Andere Aspekte, die insbesondere in Hinblick auf ihren akteursfokussierten Untersuchungsschwerpunkt relevant wären, kommen indes zu kurz, zumal es um das politische Handeln der Abgeordneten gehen soll, die mit Ausnahme der Präsidenten lediglich in verschiedenen Übersichten Erwähnung finden. Es bleibt also Bedarf an einer mehr in die Tiefe gehenden historischen Studie - auch wenn Soldwisch eine erste hilfreiche Übersicht zum Thema liefert.
Dominik Arne Klein