Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma, Berlin / München: Propyläen 2022, 384 S., ISBN 978-3-549-10030-1, EUR 26,00
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In der Öffentlichkeit stand 1923 lange als Chiffre für die deutsche Hyperinflation: Die Information darüber gehört unverändert zum Kanon im schulischen Geschichtsunterricht, und so mancher dürfte schon einmal einen der im Herbst 1923 gedruckten Milliarden- oder gar Billionen-Geldscheine gesehen haben. Ob die lange propagierte spezifisch deutsche Angst vor einer solchen Inflation, das "Trauma", nach einem Jahrhundert tatsächlich noch in diesen Ereignissen von 1923 verankert ist, ob es sie überhaupt noch gibt oder sie sich gar nicht mehr so sehr von Inflationsängsten in anderen preissteigerungsgeplagten Ländern unterscheidet, mag offen bleiben. Die eine oder andere Meldung zur aktuellen Inflationsrate ist zwar pflichtschuldig mit einem Verweis auf 1923 geschmückt, aber Zeitzeugen gibt es selbstverständlich nicht mehr; es könnte also sein, dass diese Hyperinflation langsam in der Öffentlichkeit dem Vergessen anheimfällt, wie es für etliche andere Ereignisse des wahrlich ereignisreichen Jahres 1923 bereits geschehen ist.
Diese Ereignisse schildert Jones in seiner Studie. Das gelingt ihm sehr anschaulich, weil er zumeist mit einer mikroskopisch betrachteten Episode einsetzt, um diese dann zu erweitern. Dagegen ist der Kunstgriff, die einzelnen Kapitel nach den aufeinanderfolgenden Monaten des Jahres 1923 zu benennen, nicht ganz für bare Münze zu nehmen. Selbstverständlich muss er bei dem jeweiligen "Monat" Dinge berücksichtigen, die sich vor dem Monat ereignet haben, und solche, die nachfolgen. Ein Beispiel: Der "April" ist laut Untertitel der Überschrift Hitlers Aktivitäten in München zugeordnet, aber natürlich werden dabei deren vorherige Entwicklungen geschildert und ebenso Entwicklungen über den April hinaus, die dann später im November-Kapitel vorausgesetzt werden können. Auf das stark antisemitische Klima und entsprechende Maßnahmen gegen Juden in München und in der "Ordnungszelle" Bayern weist Jones durchgängig mit Recht hin.
Die Initialzündung für die zahlreichen Krisen des Jahres 1923 war die französisch-belgische Ruhrbesetzung im Januar mit dem erklärten Ziel, sich die deutschen Reparationen beziehungsweise einen wichtigen Teil, die Reparationskohle, selbst zu holen. Der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré ist für Jones fast durchgängig die bête noire, die eine gütliche Einigung über die Reparationen verhinderte und so Deutschland ins Chaos stürzte. Tatsächlich darf man aber wohl auch Poincaré ein an sich rationales (wenn auch kaum zukunftsweisendes) Kalkül für diese machtpolitische Demonstration unterstellen, das in der französischen Politik und Öffentlichkeit eine breite Grundlage hatte: die Angst vor einem Wiedererstarken des strukturell überlegenen Nachbarn Deutschland, wenn der Versailler Vertrag nicht minutiös erfüllt würde. Davon war man aber in Berlin weit entfernt, und gerade der Vertrag des Jahres 1922, den Rathenau in Rapallo mit Sowjetrussland geschlossen hatte, wirkte hier traumatisch. An sich war dieser ein dem Wortlaut nach harmloser Normalisierungsvertrag zwischen zwei Staaten, aber das Signal für die Staatengemeinschaft war ein anderes. Jones formuliert hier unsauber, wenn er in seinem einleitenden Rückblick auf 1922 suggeriert, dass zu diesem Vertrag ein Geheimabkommen über militärische Zusammenarbeit "sowie aktive Planungen" gehört hatten, "um die Bedingungen des Pariser Friedensvertrages zu umgehen" (46): Dies war lediglich die Furcht der Siegermächte, und die geheimen Abmachungen wechselseitiger militärischer Ausbildung beziehungsweise Ausrüstung existierten unabhängig vom Vertrag von Rapallo.
Die Ruhrbesetzung mündete bekanntlich in den "passiven Widerstand", den die Reichsleitung propagierte, was wiederum das Besatzungsregime verhärtete, zu Ausweisungen widerständiger Beamter und letztlich auch zu Gewalttaten zwischen Besatzern und Besetzten führte. Jones spart hier wenig aus und schildert auch Übergriffe der französischen und belgischen Soldaten sowie Vergewaltigungen, offenbar ein immer wieder zu beobachtender Begleiter von Militäroperationen. Auf deutscher Seite gab es Versuche, wenn auch in der Summe in überschaubarer Zahl, mit gewalttätigem Widerstand Chaos bei den Besatzungstruppen und vielleicht das Fanal zum Aufstand zu erzeugen. Letztlich war dies angesichts der Machtverhältnisse zwar aussichtslos, aber etwa der Mythos von Albert Leo Schlageter, den ein französisches Militärgericht zum Tode verurteilte und hinrichten ließ, diente der NSDAP zeitnah zur Inszenierung und dann vor allem nach 1933 ihrer eigenen Gewaltpropaganda für den Umgang mit inneren und äußeren Gegnern.
Jones streut gelegentlich Kenntnisse aus Archivalien ein; seine Hauptgrundlage bildet jedoch die umfängliche Forschungsliteratur. Häufig illustriert er die geschilderten Ereignisse auch durch Paraphrasierung oder Zitate aus Zeitungsartikeln. Dabei ist er in quellenkritischer Hinsicht vielleicht nicht immer vorsichtig genug: Die Presse der Weimarer Republik war zum einen stark parteipolitisch affiliiert oder zumindest jeweils politischen Lagern verbunden; zum anderen war sie in der Auseinandersetzung mit Frankreich ebenso national, wie es die Reichsregierung und die meisten Parteien waren. Zeitungsartikel sind also als Traditionsquellen und dementsprechend mit großer Vorsicht zu behandeln: Hätte Jones die Parallelüberlieferung in französischen Zeitungen herangezogen, würde sich mit Sicherheit manches anders darstellen.
Ein weiterer Kritikpunkt: Er macht nicht hinreichend deutlich, dass auch das "altbesetzte" Gebiet, also jenes links des Rheins, unmittelbar in die Auseinandersetzung hineingezogen wurde. Dies lag schon daran, dass auch dort die Beamten etwa der Eisenbahn oder der kommunalen Verwaltung sich Anweisungen der Franzosen widersetzten und dann - in großer Zahl - auch von den rüden Ausweisungen betroffen wurden, die wie im Ruhrgebiet zur gängigen Praxis der Besatzer gehörten.
Im August 1923 war das Minderheitskabinett von Reichskanzler Wilhelm Cuno am Ende: Eine Streikbewegung der unter der wachsenden Inflation und drastischen Verschlechterung der Lebensverhältnisse leidenden Arbeiter machte der Reichstagsmehrheit deutlich, dass es mit dieser Regierung keine Lösung geben konnte. Gustav Stresemann gelang es, als neuer Reichskanzler eine Große Koalition zu bilden, die von der SPD bis zur DVP reichte. Noch hegte man in Berlin kurzzeitig die schon seit Jahresbeginn vorhandene Hoffnung, dass Großbritannien Frankreich bremsen und aus dem Ruhrgebiet herauskomplimentieren würde, aber sie trog: Die Rücksicht auf den Entente-Partner aus Kriegszeiten überwog in London die Sorge darüber, dass Frankreich sich machtpolitisch einseitig Vorteile verschaffen würde, mit der Kontrolle über das wichtigste deutsche Industriegebiet und im Hinblick auf die deutschen Reparationen, bei denen das Vereinigte Königreich aktuell nicht mit seinem Anteil rechnen konnte. Am 26. September war es so weit: Weil die Reichsregierung die Gelddruck-Maschinen laufen lassen musste, um die unproduktiven Arbeiter an der Ruhr und die massenhaft Vertriebenen zu unterstützen, ließ die dadurch forcierte Hyperinflation keine andere Wahl, als den passiven Widerstand abzubrechen und sich damit im Grunde auf Gedeih und Verderb den Franzosen und Poincaré auszuliefern.
Dieser Abbruch war nun das Zeichen für Sturmattacken, wie sie die Republik noch nicht erlebt hatte. Linke Aufstandsplanungen in Sachsen und Thüringen (für den von Moskau angeordneten "Roten Oktober") und rechte Putschpläne gegen die Republik, die im eher dilettantisch durchgeführten "Hitler-Putsch" vom 9. November gipfelten, brachten das Reich ebenso an den Rand des Zusammenbruchs wie der von französischen Stellen massiv unterstützte linksrheinische Separatismus mit seiner Proklamation der "Rheinischen Republik". Mit viel Glück überstanden die Regierung und die Republik diese Gefahren, von denen jede einzelne gereicht hätte, um das "Weimar-Experiment" [1] schon nach wenigen Jahren zum Scheitern zu bringen. Zwar zerfiel darüber, genau gesagt über der unterschiedlichen Behandlung der linken Aufstandsplanungen in Mitteldeutschland und der Reaktion auf bayerische Widersätzlichkeiten gegenüber dem Reich, die Große Koalition durch Austritt der SPD-Minister. Aber vor allem die gewagte, doch geglückte Währungsreform im Herbst 1923 leitete in die Stabilisierung hinüber. Und ebenso wichtig: Großbritannien und die USA zwangen gegen Jahresende Frankreich, die Reparationsfrage einem Expertengremium vorzulegen, was 1924 im Dawes-Plan mündete. Damit verlor Paris die Reparationen als politisches Instrument; diese Frage wurde in eine wirtschaftlich-finanzielle überführt. Im Ergebnis hatte daher Poincaré mit der Ruhrbesetzung einen Pyrrhus-Sieg errungen, denn auch der Franc war inzwischen auf Talfahrt gegangen. Die Abwahl des Ministerpräsidenten im Frühsommer 1924 erlaubte Stresemann seine Verständigungspolitik. Er hatte 1923 die Lektion gelernt, dass eine Revision des Versailler Vertrags nur im Einvernehmen mit den Siegern und vor allem mit Frankreich gelingen konnte. Damit und mit der wirtschafts- und innenpolitischen Konsolidierung begannen für die Weimarer Republik die wenigen vermeintlich "goldenen Jahre".
Jones' Bewertung der Folgen des Jahres 1923 ist differenziert. Einerseits führt er Thomas Mann an, der einen direkten Weg von der Hyperinflation zum Massenmord des Nationalsozialismus konstatieren zu können glaubte: Die Beschwernisse des Jahres 1923 hätten viele Menschen in Deutschland dazu geführt, sich von der Republik abzuwenden. Zudem habe es im Krisenjahr neue Höhepunkte des Antisemitismus gegeben. Andererseits hätten auch die Verfechter von Demokratie und Republik Ende 1923 als Sieger dagestanden, und im Grunde sei dies ihr größter Erfolg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen. Dieser Abwägung ist wohl nicht zu widersprechen und sie ist der Ertrag eines durchweg lesenswerten Buches.
Anmerkung:
[1] Walter Mühlhausen: Das Weimar-Experiment. Die erste deutsche Demokratie 1918-1933, Bonn 2019.
Wolfgang Elz