Elisabeth Décultot / Jana Kittelmann (unter Mitarbeit von Baptiste Baumann) (Hgg.): Johann Georg Sulzer - Johann Jakob Bodmer. Briefwechsel (= Johann Georg Sulzer. Gesammelte Schriften; Bd. 10), Basel: Schwabe 2020, LII + 1996 S., 29 Farb-, 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-7965-3814-8, CHF 340,00
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Mit dem Briefwechsel zwischen Johann Georg Sulzer (1720-1779) und Johann Jakob Bodmer (1698-1783) liegt die 35-jährige, kontinuierliche Korrespondenz zweier zentraler Protagonisten der deutschsprachigen Aufklärung vor. Die kritische Ausgabe ist doppelt erschienen. Zum einen als vorgezogener doppelbändiger letzter Teil der bei Schwabe verlegten Gesammelten Schriften Sulzers - ein Text- und Kommentarband mit jeweils rund 1000 Seiten in Quart. Zum anderen als online-Ausgabe (https://sulzer-briefe.uni-halle.de/sb/index.html). Mit Elisabeth Décultot und Jana Kittelmann zeichnen die führenden Sulzer-Expertinnen, unter Mitarbeit von Baptiste Baumann, dafür verantwortlich. Christoph Wernhard hat die online-Ausgabe technisch betreut. Elisabeth Décultot agiert als Hauptherausgeberin von Sulzers Gesammelten Schriften, die aus Mitteln ihrer Humboldt-Professur möglich gemacht worden sind.
Beiden Editionen der 454 Schreiben zwischen 1744 und 1779 wurden Namens-, Werk-, Orts-, Ereignis-, Sach-, Journal- und Institutionsregister zur Seite gestellt. Die Briefkommentierung verzeichnet neben den Stellenkommentaren die Überlieferung, Korrekturen und Zusätze der Briefe sowie beigelegte Texte und Schreiben an weitere Adressaten.
Mit Albrecht Beutel, Ursula Caflisch-Schnetzler, Kai Kauffmann und Johann van der Zande haben exzellente Sachkenner die Ausgabe lobend, ja enthusiastisch rezensiert (https://sulzer-briefe.uni-halle.de/sb/index.html). Ich schließe mich ihrem Lob an, wenn auch von einer etwas anderen Seite her.
Unisono wird Sulzers Etikettierung aufgegriffen: Man besitzt mit dem Briefwechsel ein "Archiv der Critik" (929), das sich als Schweizer Connection zwischen dem aus Winterthur stammenden Sulzer, der, zum Berliner Eliteschulen-Professor, Akademiemitglied und Direktor der philosophischen Klasse ab 1775 geworden, nach jahrzehntelanger Arbeit die schönen Künste in ein Lexikon brachte, und zum anderen seinem Lehrer am Züricher Collegium Carolinum Bodmer füllte, dem unablässig dichtenden Nestor frühaufklärerischer Befreiung von der Regelpoetik, der Milton und Homer übersetzte, mittelhochdeutscher Literatur Aufmerksamkeit verschaffte, und als Vaterfigur in der anschwellenden Literatenszene operierte. Schon Sulzer hatte die Briefe Bodmers herausgeben wollen.
Nun sind sie und dessen eigene also da und bilden mit der Erwähnung von über 1700 Personen und der Verzeichnung von 1200 Werken, rund 100 Journale darunter, die Entfaltung des Sulzer-Bodmerschen-Literaturkosmos ab. Markiges im Gottschedstreit, Klopstockheiligung, dann Wielandverehrung - und die Konflikte mit beiden - die "Neueren" schließlich von Lessing bis Herder und Goethe nicht nur für sich, sondern in der unablässigen Brandung des literarischen Tagesgeschehens - Van der Zande, Kauffmann und Calfisch-Schnetzler haben die Grundlinien davon gezogen und Beutel die religiöse Substanz der poetischen Geschmacksarbeit, der sich die Protagonisten verschrieben haben, gerade bei Bodmer unterstrichen. Zurecht: Miltons Paradies, Klopstocks Messias und dann Bodmers Noah, der den Briefwechsel durchzieht - die Weltgeschichte als Bibelgeschichte zum nationalsprachlichen Epos zu transponieren ist die ultimative poetologische Tat. "Klopstok ist mein Poet, oder vielmehr der Messias, und ich will ihr beyder Evangelist werden", schrieb Bodmer 1749 (76); "Lessing nimmt uns das Evangelium; die Empfindler nehmen uns die Vernunft. Er die Zweite offenbarung, diese die Erste", heißt es dreißig Jahre später 1778 (1019).
Der Briefwechsel entwickelte sich. Hatte Sulzer zunächst als Gesandter Bodmers in Sachsen und Preußen fungiert, rückt er im Lauf seiner Karriere auf Augenhöhe. Politik beginnt bedeutend zu werden - Sulzer wird von Friedrich II. protegiert, bekommt von ihm Grundstücke geschenkt und wird von ihm zum Akademiedirektor gemacht; dafür ist Friedrich bei Sulzer der große epochale Held; Bodmer ist Mitglied des Kantonsrats. Persönliches gewinnt an Intensität, zumal nach dem Tod von Wilhelmine, Sulzers Frau, 1760. Schon 1777, ein Jahr vor seinem Tod, hat der lungenkranke Sulzer in allen Schreiben sein Ableben vor Augen. Die Freundschaftsbeschwörungen der beiden Briefpartner, die sich nur dreimal im Leben getroffen haben, sind nicht nur obligatorische Floskulatur. Die Briefe bekunden die Freundschaft nicht nur. Sie sind die Freundschaft.
Was den Briefwechsel zu einem Aufklärungsdokument erster Ordnung und in diesem Sinn zu einem eigentlichen "Archiv der Critik" macht, ist nicht die Einzelperspektive, das Literarische, Politische, Persönliche, für sich, sondern ihr funktionales und instrumentelles Verwoben-sein. Aufklärung wurde nicht erdacht. Aufklärung wurde organisiert und institutionalisiert. Aufklärung hat im vernetzten Kommunikations- und Interaktionsstrom Information getaktet und dabei Norm- und Wertestrukturen in soziokulturellen Apparaten konturiert. Philosophie spielt im Briefwechsel keine Rolle. Weder Wolff noch Hume tauchen auf. Rousseau wird von Bodmer exklamatorisch benutzt: 'O Rousseau'. Denn Aufklärung hat den praktisch zu erarbeitenden Nutzen zur allgemein anerkannten, obligatorischen Leitlinie gemacht. So auch beim Geschmack und der Literatur, die Bildung, Bürgerlichkeit, Religiosität zum Common Sense verschmelzen und den Einzelnen im sozialen Wir orientierten. Dass sein Kunstlexikon "von einem allgemeinen Nuzen" (328) sein werde, hofft Sulzer. Der Briefwechsel ist keine Plauderwiese eines aufklärerischen Dies-und-Das. Sulzer und Bodmer halten am Zweck, Informationsfluss und Vernetzung im literarischen Apparat zu installieren, all die Jahre fest und bauen ihn so auf und aus. Sie diskutieren Literatur nicht tief. Sie urteilen: Dieses Werk, dieser Autor, dieses literarische Detail ist gut, schlecht, medioker. Persönliche Vertrautheit, Amtsträgerschaft und Sachfokus fließen dabei zusammen, weben an den Netzen der literarischen Sphäre mit dem Nachdruck und der Verbindlichkeit des Namens, den man im Literarischen hat. Von Anfang an. Bodmer dankt Sulzer im Dezember 1744 für Informationen, die er ihm und Breitinger in Briefen an J. H. Waser hat zukommen lassen, ruft Sulzer zur Zusammenarbeit mit J. W. L. Gleim, S. B. Naumann und S. G. Lange auf, vermerkt die Neuerscheinungen, die ihm unter die Augen gekommen sind, und eigene Publikationsaktivitäten. Neben dem Brief an Sulzer liegen der Sendung Briefe an S. G. Lange und F. v. Hagedorn sowie Stücke der von Bodmer herausgegebenen Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern bei.
Was die Sulzer-Bodmer-Briefedition wegweisend sein lässt, ist jedoch nicht der Inhalt, sondern die Form. Dass die kritische Ausgabe in fünf Jahren bewerkstelligt werden konnte - was nicht zuletzt auf Jana Kittelmanns Leistung beruht, die auch die schwierige Handschrift Bodmers meisterte - ist enorm. Die repräsentative Druckausgabe und die online-Ausgabe ergänzen sich ideal. Erst die online-Ausgabe macht wissenschaftlich forschendes Arbeiten mit den Briefen möglich. Die Fundstellen zu den Registereinträgen von Abendland, Altertum und Anarchie bis Zärtlichkeit und Zensur, aller Namen und Werke lassen sich direkt ansteuern. In den online-Briefen sind die Registereinträge farbig markiert und strukturieren die Schreiben so auf einen Blick. Die Kommentare am Rand erschließen den Text sofort. Und natürlich lässt sich nach eigener Regie beliebig in den Briefen suchen. Vor allem aber: Die online-Ausgabe weist dynamisch in die Zukunft hinein. Die Verbindung mit den übrigen, zur Ausgabe anstehenden Sulzer-Korrespondenzen wie generell die digitale Verknüpfung von Briefeditionen wird den Briefwechsel als Teil des zeitgenössischen Diskursgeschehens wiederbeleben. Wiederbelebt wird der Briefwechsel schon dadurch, dass sich in der online-Ausgabe Scans der Schreiben aufrufen lassen. Erst die Druckausgabe jedoch, der unmarkierte und nicht von Strukturierung durchbrochene Text, gewährt dem Leser Zugang zum Dialogfluss - die Möglichkeit, selbst dabei zu sein und unvoreingenommene Teilhabe am sich entwickelnden Briefwechsel zu finden. Das Kulturdokument der Druckausgabe nimmt einen als Lesetext in den Briefwechsel hinein. Die Onlineausgabe hält ihn für die Forschung up-to-date. Die Ausgabe erreicht somit, was in den Humanities selten gelingt: Ein Stück, das bleibt.
Martin Gierl