Klaus Marxen / Moritz Vormbaum / Gerhard Werle: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz, 2. Aufl., Berlin: De Gruyter 2020, XXIII + 370 S., ISBN 978-3-11-057394-7, EUR 79,95
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Bei dieser Überblicksdarstellung zur Strafverfolgung von DDR-Unrecht in der Endphase der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland handelt es sich um die erheblich überarbeitete Neuauflage einer bereits 1999 erschienenen Publikation. Damals waren noch nicht alle einschlägigen Strafverfahren abgeschlossen, sodass erst mit der jetzt erfolgten Aktualisierung der statistischen Daten eine endgültige Bilanz vorliegt, die auch die seitdem veröffentlichte Literatur berücksichtigt. Die Publikation basiert auf dem großen Projekt "Strafjustiz und DDR-Vergangenheit", das, von der VW-Stiftung finanziert, an der Juristischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität unter der Leitung der Autoren Klaus Marxen und Gerhard Werle seit 1993 eine umfassende Bestandsaufnahme geleistet [1] und etliche Einzelforschungen vorgelegt hat. [2] Auch der bei der Neuauflage hinzugekommene dritte Autor, Moritz Vormbaum, war dort bis 2016 tätig.
Die Arbeit ist klar und übersichtlich gegliedert. Im ersten Hauptkapitel "Erscheinungsformen des DDR-Unrechts" werden die unterschiedlichen Deliktsgruppen behandelt: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Wahlfälschung, Rechtsbeugung, Denunziationen, MfS-Straftaten, Misshandlungen in Haftanstalten, Doping, Amtsmissbrauch und Korruption, Wirtschaftsstraftaten, Spionage. Dabei werden sowohl die zugrunde liegenden Sachverhalte als auch die mit der Strafverfolgung verbundenen Rechtsfragen konzise und strukturiert erörtert.
Es folgt das Hauptkapitel "Verfahrenspraxis", das sich in einem Unterkapitel gesondert auch mit der Strafverfolgung in der Endphase der DDR befasst, in der hauptsächlich Anklagen wegen der Fälschung der Kommunalwahlen im Mai 1989 und wegen Amtsmissbrauch und Korruption erhoben wurden. Der größte Teil des Hauptkapitels ist aber der Zeit nach der Vereinigung gewidmet. Behandelt werden die spezifischen organisatorischen Maßnahmen der Länder im Bereich der Staatsanwaltschaften, das für die Untersuchung zur Verfügung stehende Material sowie die Ermittlungs-, Anklage- und Urteilspraxis. Da die bei den Ländern zur Verfügung stehenden Daten aufgrund von unterschiedlichen Erhebungspraxen und -kategorien teilweise statistisch problematisch sind, wurde die Anklage- und Urteilspraxis auf der Grundlage einer eigenen Erhebung untersucht.
Das Fazit fasst die wesentlichen Erkenntnisse zu den Erscheinungsformen des DDR-Unrechts und zur Verfahrenspraxis zusammen, entwickelt daraus Grundlinien der strafrechtlichen Aufarbeitung und nimmt eine abschließende Bewertung vor. Darüber hinaus wird die strafrechtliche Verfolgung von DDR-Unrecht in den internationalen Kontext eingeordnet und ein kurzer Ausblick gegeben.
Rechtsfragen grundsätzlicher Art wurden vor allem im Bereich des Strafanwendungsrecht und der Verjährung aufgeworfen: Da das Strafrecht der Bundesrepublik durch den Einigungsvertrag auch für die ostdeutschen Bundesländer verbindlich wurde, gleichzeitig aber das Rückwirkungsverbot beachtet werden musste, ergab sich folgende Sachlage: Voraussetzung für die Strafverfolgung war, dass das Delikt sowohl nach bundesdeutschem als auch nach DDR-Recht strafbar sein musste, wobei die für den Täter jeweils günstigste Regelung maßgeblich war. Im Hinblick auf die Verjährung wurde ein Ruhen während des Bestehens der DDR grundsätzlich bei allen denjenigen Delikten festgestellt, die entsprechend dem Willen der Staats- und Parteiführung der DDR nicht geahndet worden waren.
Der Band enthält eine Vielzahl von aussagekräftigen statistischen Daten zu den Strafverfahren. Der quantitativ größte Verfahrenskomplex betraf Tatbestände der Rechtsbeugung: Ca. 75 Prozent der Ermittlungsverfahren und 36 Prozent der Anklagen entfielen auf diesen Bereich, die Quote der Verurteilungen lag allerdings nur bei 24 Prozent. Bei den Verfahren wegen Gewalttaten an der Grenze war das Verhältnis umgekehrt: Hier betrug der Anteil der Angeklagten 27 Prozent und der der Verurteilten 37 Prozent. Bei beiden Verfahrenskomplexen war die Feststellung einer schweren Menschenrechtsverletzung maßgeblich für die Strafbarkeit und damit für die Verurteilungen. Dieses Erfordernis ergab sich aus entsprechenden höchstrichterlichen Entscheidungen.
Unergiebig war die Verfolgung von Unrechtshandlungen, die routinemäßig im Dienstbetrieb des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) verübt wurden. Das Abhören von Telefongesprächen blieb straffrei, weil eine entsprechende DDR-Strafnorm fehlte, und auch das Öffnen von Briefsendungen und das heimliche Betreten von fremden Wohnungen wurde so gut wie nicht geahndet, weil den Tätern regelmäßig ein "unvermeidbarer Verbotsirrtum" zuerkannt wurde. Auch die Entnahme von Wertgegenständen aus Postsendungen konnte nicht bestraft werden, weil diese Praxis nicht zum eigenen Nutzen, sondern zugunsten der DDR-Staatskasse erfolgte und damit vom bundesdeutschen Unterschlagungstatbestand nicht abgedeckt wurde. So wurden im Bereich der MfS-Straftaten vor allem schwerwiegende Taten, darunter Entführungen und (versuchte) Tötungsdelikte, vor Gericht gebracht und zumeist auch geahndet.
Die von den Autoren zusammengestellten und teilweise selbst ermittelten Zahlen zeichnen ein bemerkenswertes Gesamtbild der strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Etwa 75.000 Ermittlungsverfahren wurden gegen ca. 100.000 Beschuldigte eingeleitet. Angeklagt wurden hingegen nur 1.450, was einer Quote von 1,4 Prozent entspricht, und zu Verurteilungen kam es nur bei gut der Hälfte der Angeklagten. Der Anteil der rechtskräftig Verurteilten lag demnach im Verhältnis zu den ursprünglich in Ermittlungsverfahren Beschuldigten bei 0,75 Prozent, was im Vergleich zu den bei der allgemeinen Kriminalität üblichen Verurteilungsquoten von 20 bis 30 Prozent ein außerordentlich niedriger Wert ist. Gründe hierfür waren unter anderem die Begrenzung der Strafbarkeit durch verschiedene Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und die dem hohen Alter vieler Beschuldigter geschuldeten Verfahrenseinstellungen.
Trotzdem ziehen die Autoren eine überwiegend positive Bilanz: Durch die Konzentration auf die Bestrafung schwerer Menschenrechtsverletzungen sei ein richtiges Signal gesetzt worden, individuelle Verantwortung für Systemunrecht sei sichtbar geworden und die strafjustizielle Aufklärung und Anerkennung von Unrechtstatbeständen habe eine wichtige Funktion für die gesellschaftliche Erinnerung.
Die vorliegende Publikation bietet einen fundierten Überblick. Die tatsächlichen und rechtlichen Aspekte der Thematik sind umfassend und qualifiziert, aber angesichts der Komplexität der Materie erstaunlich kompakt und auch für den juristischen Laien verständlich dargelegt. Der Band ist zweifellos das Standardwerk zur strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht, das jeder Interessierte als erstes zur Hand nehmen sollte, und wird es wohl auch auf lange Sicht bleiben.
Anmerkungen:
[1] Klaus Marxen / Gerhard Werle (Hgg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, 7 Bde., Berlin / New York 2000-2009.
[2] U. a. Ute Hohoff: An den Grenzen des Rechtsbeugungstatbestandes. Eine Studie zu den Strafverfahren gegen DDR-Juristen, Berlin 2001; Toralf Rummler: Die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze vor Gericht, Berlin 2000; Roland Schißau: Strafverfahren wegen MfS-Unrechts. Die Strafprozesse bundesdeutscher Gerichte gegen ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Berlin 2006.
Roger Engelmann