Herbert Jaumann (Hg.): Das Jahr 2440, zum zweiten Mal geträumt. Drei Texte zur Rezeption von Merciers Zeitutopie L'An 2440 in der deutschen Spätaufklärung (= Deutschlands achtzehntes Jahrhundert. Quellen; Bd. 2), Erfurt: Ulenspiegel-Verlag 2020, 480 S., ISBN 978-3-932655-57-9, EUR 48,00
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Der Roman L'An 2440, rêve s'il en fut jamais von Louis-Sébastien Mercier erschien 1770 / 1771 und markierte innerhalb der Geschichte der politischen Utopien einen Paradigmenwechsel. Denn die Utopie besteht, so der Konsens der Forschung, sowohl aus einer Kritik an der jeweiligen Gegenwart als auch einer imaginierten utopischen Alternative, die der eigenen Zeit als Ideal oder zumindest in regulativer Absicht gegenübergestellt wird. In der Neuzeit war dieses utopische Ideal seit Thomas Morus immer räumlich entfernt, d.h. es konnte erfahren, besucht werden. Mercier ersetzte dieses Verfahren durch die zeitliche Distanz, verlegte die Utopie in die Zukunft. Damit machte er den Weg frei für die Naturalisierung und Biologisierung der Utopie ebenso wie für die Entwicklung verschiedener Science-Fiction-Elemente. Und nicht zuletzt schuf er die Grundlagen für die Verbindung von Utopie und Geschichtsphilosophie: Eine Entwicklung, die sich mit Condorcets Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain dann in der Französischen Revolution voll und vor allem politisch relevant Bahn brach. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegen auf einem Zeitstrahl, der aktiv handelnde Mensch ist dergestalt für sein Schicksal selbst verantwortlich, wird der "Baumeister" seiner eigenen Welt.
Bereits 1772 legte Christian Felix Weiße eine deutsche Übersetzung von Merciers Zeitutopie vor, die Herbert Jaumann 1982 neu herausgegeben hat. [1] Die nun erschienene Edition schließt sich quasi an diese erste Publikation an, wobei es bedauerlich ist, dass nicht auch von Merciers Text eine Neuauflage gebracht wurde, da die im Umlauf befindlichen Exemplare antiquarisch sehr teuer sind. Jaumanns rezeptionsgeschichtlich bedeutsames Buch zerfällt in 4 Teile und einen Anhang.
Der 1. Teil enthält, das ist der direkte Rückgriff auf Mercier, drei Rezensionen von dessen L'An 2440, darunter Wortmeldungen von Albrecht von Haller und Christoph Martin Wieland, die beide ebenfalls utopische Romane produzierten. Teil 2 bis Teil 4 bringen dann in Faksimile-Drucken drei deutschsprachige Schriften, die sich als Fortsetzungen, Adaptionen usw., des Romans von Mercier verstanden. Präsentiert werden die Monographien: a) Karl Heinrich Wachsmuth: Das Jahr 2440, zum zweitenmal geträumt (Teil 2); b) Johannes Tobler: Onyramynt fürs Christentum (Teil 3), c) Anonym (Walther Merian?): Das Jahr 1850 (Teil 4). Allen drei Werken sind dann noch jeweils kleinere Rezensionen der damaligen Zeit beigegeben.
Dieser Hauptteil der Edition hat sicherlich zuvorderst dokumentarischen Charakter für die interessierten Leserkreise. Bedauerlich ist es, dass das "Navigieren" in den Texten sehr erschwert wird, da der Verlag auf eine durchgehende Nummerierung verzichtete und noch nicht einmal im Inhaltsverzeichnis Seitenzahlen angegeben werden. Alle Unterkapitel usw. müssen ohne jeden Anhaltspunkt durch mühsames Blättern gefunden werden. Dazu hätte durch ein "Abtippen" der teilweise schlechten gescannten Vorlagen der notwendige Raum von knapp 340 Seiten auf schätzungsweise unter 150 reduziert und die Lesbarkeit deutlich erhöht werden können. Dank der modernen Technik ein Arbeitsaufwand einiger Tage. Zudem bietet die Präsentation in Faksimile-Form keinen ästhetischen Mehrwert. Die ergänzenden Rezensionen wurden dann sogar abgetippt und mit Seitenzahlen versehen, die sich aber, wie gesagt, im Inhaltsverzeichnis nicht finden.
Von wissenschaftlicher Bedeutung ist zuvorderst Jaumanns Anhang (beginnend auf 344), der einen umfangreichen Apparat bietet: Ein Quellen- und Ausgabenverzeichnis, eine Auswahlbibliographie zur Forschungsliteratur und ein Nachwort zu den Texten und Autoren. Es zeigt sich, dass Jaumann seit seiner Assistentenzeit bei Wilhelm Voßkamp ein herausragender Kenner des deutschsprachigen utopischen Diskurses ist, der sich, was ja auch die Edition evidiert, intensiv in die Originaldokumente eingearbeitet hat. Das erste Drittel des Nachworts bietet dann noch einmal eine Geschichte der Rezeption des Mercierschen L'An 2440, an der hier vor allem ein Punkt bedeutend ist: Jaumann stellt deutlich heraus, dass gerade die von Mercier geleistete Religionskritik in Deutschland abgeschwächt und zurückgedrängt wurde (346-348). Ein Vorgang, der sich dann beispielsweise am Ende des Jahrhunderts mit Blick auf die Revolution wiederholte.
Für den Kreis der Utopieforscher ist Jaumanns Zusammenstellung mit Sicherheit ein Gewinn, nicht zuletzt durch die verschiedenen Rezensionen usw., denn sie zeigt auch, welche Konjunktur das Thema "Zukunft" im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hatte und dass es auch unterhalb der Ebene der "Hochliteratur" weite Verbreitung fand. Einen nächsten, noch intensiveren Höhepunkt erreichte die Thematik dann vor der Epochenschwelle 1900. Interessanterweise wird durch die präsentierten Beiträge auch gut die Grenzscheide markiert, welche die Öffentlichkeit von dieser "zweitrangigen" Produktion trennte und eine breitere, eben Aufmerksamkeit erzeugende Rezeption verhinderte. Zudem kann in den einzelnen Texten gut nachgelesen werden, welche teilweise grundlegenden Unterschiede es in der inhaltlichen Besetzung der Themengebiete der Literatur und Philosophie der Aufklärung in Frankreich und Deutschland gab. Wichtiger fast noch als eine Zusammenstellung der Rezeptionslinien wäre eine Analyse der "verweigerten Rezeption" einzelner Bestandteile, zu der Jaumann durch seinen Umgang mit der Darstellung der Religionskritik einen wichtigen Beitrag geleistet hat.
Hingewiesen sei ergänzend darauf, dass 2020 eine weitere Adaption der Mercierschen Vorlage erstmals in deutscher Sprache vorgelegt wurde: Holland im Jahr 2440. Die erste niederländische utopische Zukunftserzählung aus dem Jahr 1777, übersetzt, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Dieter von Reeken. Autorin war Betje Wolff (Elizabeth Wolff, geb. Bekker), so dass mit dem Text nicht nur die erste niederländische Zeitutopie vorliegt, sondern auch ein bisher nicht beachteter Beitrag zu den Frauenutopien.
Anmerkung:
Louis-Sébastien Mercier: Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume, Frankfurt am Main 1982.
Andreas Heyer